Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/understanding-the-understanding
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"Die Begriffe" begreifen.
Lies das, und alles, was du an Russland rätselhaft findest, wird kristallklar sein.
Bei der Lektüre westlicher Kommentare zum Prigoschin-Putsch oder zur Verhaftung von Girkin ist mir aufgefallen, dass kaum jemand im Westen den Schlüsselbegriff versteht, der für das Verständnis Russlands notwendig ist. Ironischerweise heißt er "ponyatya", was übersetzt "Begriffe" bedeutet.
Wenn Du Begriffe verstehst, weiß du zwei Dinge. Erstens: Prigozin ist ein urka. Zweitens: Putin ist ein wor w zakone [In den Kommentaren unter dem Originalbeitrag wurde diskutiert, ob er doch ein pakan ist].
Deutsch, bitte? Jawohl!
Ponyatya ist ein Oberbegriff für die russische Gefängniskultur. Jedes Land hat eine, aber in einer typischen westlichen Gesellschaft, wenn man ein normales, langweiliges, bürgerliches Leben führt, schenkt man ihr keine große Beachtung.
Ein typischer Westeuropäer rechnet nicht damit, jemals ins Gefängnis zu kommen oder einen Freund oder Verwandten hinter Gittern zu haben. Für den durchschnittlichen Lars Nielsen oder Jan Nowak ist die Gefängniskultur etwas, das sie nur aus Krimis kennen.
Bei Iwan Iwanowitsch ist das nicht der Fall. Es gibt ein russisches Sprichwort, das sich in etwa so übersetzen lässt: "Jeder sollte auf ein Leben im Gefängnis oder ein Leben als Bettler vorbereitet sein". Eine hohe Inhaftierungsrate führt zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, die Gefängniskultur "auf die harte Tour" kennenzulernen.
Kein Lebensstil, kein sozialer Status kann einen davor schützen. Raketenwissenschaftler? Partei-Apparatschik? Arzt? Jurist? Sie haben einen besonderen Platz im Gulag, auf dem dein Name steht, Genosse.
Ein Mitglied der königlichen Familie zu sein, war während der Zarenzeit kein Schutz. Im Gegenteil, es machte Sie nur noch anfälliger dafür, wegen eines Verbrechens wie "Beleidigung einer Zarentochter während eines Balls" inhaftiert zu werden. Allein der Dekabristenaufstand von 1825 führte zu einer großen Zahl von adeligen Verurteilten.
Der Hauptgrund dafür war, dass Russland im Zuge der imperialistischen Expansion des 18. und 19. Jahrhunderts riesige Gebiete kontrollierte, die entweder unbesiedelt waren oder von einer einheimischen Bevölkerung bewohnt wurden, die so rebellisch und feindselig war, dass sie ausgerottet werden "musste" (z. B. die Tscherkessen). In jedem Fall wurden in den Einöden dringend russische Siedler benötigt.
Da aber niemand wirklich unter den harten Bedingungen der neuen russischen Gebiete leben wollte, war die Zwangsansiedlung die einzige Lösung. Die Grausamkeit des Urteils reichte von der bloßen Zwangsansiedlung in einer Kolonie bis hin zum Marsch in Fußfesseln zum Ort der Zwangsarbeit - "Katorga" -, wo man an Unterernährung sterben sollte (sofern man die mörderische Reise überlebte).
Das russische Justizsystem hat sich also nie um Gerechtigkeit oder Recht und Ordnung gekümmert. Das Hauptziel war es, unfreiwillige Siedler für Kolonien in Sibirien, im Kuban, im Kaukasus usw. zu schaffen.
Die Bolschewiki bauten dieses System erheblich aus. Katorga war ein Kinderspiel im Vergleich zu den völkermörderischen Grausamkeiten des Gulag. Es wurde nach 1991 aufgelöst, aber die Institution der "Strafkolonie" hat bis heute überlebt.
Es gibt noch ein anderes Land mit einer vergleichbar hohen Inhaftierungsrate - und es ist weltberühmt für seine eigene Gefängnis- und Gangsta-Kultur. Ich spreche hier natürlich von den USA.
Um sich jedoch einen vergleichbaren Einfluss der Gangsta-Kultur vorzustellen, muss man seine Fantasie weit über Snoop Dogg hinaus ausdehnen, der mit seiner Verbindung zu den Crips prahlt. Stellen Sie sich staatlich geförderte Gangsta-Rap-Festivals vor. Stellen Sie sich vor, die meisten Ihrer Schriftsteller würden dieses Thema auf die eine oder andere Weise erwähnen - von der Pulp Fiction bis zum Nobelpreisträger, alle Schriftsteller beschreiben Gangsta-Charaktere.
Stell dich also ein alternatives Amerika vor, in dem Menschen erfolgreich auf ein Posten zusammen mit jemandem kandidieren, der "von der Ortsgruppe San Quentin der Aryan Brotherhood" unterstützt wird. Stell dich amerikanische Schriftsteller wie Cormac McGangsta, James Fennimore Gangstooper und Edgar Allan Gangstoe vor. Stell dich die Gangsta-Kultur in den wichtigsten Werken der Poesie und Belletristik der amerikanischen Klassiker vor, bis hin zu dem Gedicht "The Sot Weed Gangsta".
Ich übertreibe nicht. Wenn du nach Darstellungen der russischen Gefängniskultur suchst, musst du mit dem zeitlosen Klassiker "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" von Fjodor Michailowitsch Dostojewski beginnen. Aber wenn du ernsthaft recherchieren willst, musst du dich mit Lermontow, Tolstoi und sogar Puschkin beschäftigen. Für Gelegenheitsleser empfehle ich die historischen Krimis von Boris Akunin.
Wenn du "die Begriffe" wirklich begreifen willst, musst du dich natürlich mit akademischen Schriften befassen. Dieser Beitrag basiert auf einer Veröffentlichung von Jadwiga Rogoża, "Rosja za kratami: wpływ kultury więziennej na rosyjską kulturę polityczną i społeczną" (Russland hinter Gittern: der Einfluss der Gefängniskultur auf die politische und soziale Kultur Russlands, auf Polnisch erhältlich in Nowa Europa Wschodnia, 3-4/2013). Es ist auf Polnisch - izwenite! - aber für den schnellen Bedarf finden Sie hier einen Twitter-Beitrag von Kamil Galeew.
Also, wer ist ein Urka? Er ist (keine progressiven Pronomen hier!) ein skrupelloser Krimineller, der bereit ist, einen Mord zu begehen, auch wenn es nur um 50 Cent geht. "Original Gangsta" könnte eine entfernte Entsprechung im Englischen sein.
Urka befolgt nur drei Gebote: niemals Angst haben, niemals fragen, niemals vertrauen. Damit unterscheidet er sich von einem amerikanischen Gangster, der in der Regel seinem Anwalt und den staatlichen Vorschriften wie dem "attorney-client privilege" vertraut.
Offensichtlich gab es in der gesamten russischen Geschichte nie so etwas wie ein "Anwaltsgeheimnis". Eigentlich ist Ihr Strafverteidiger die letzte Person, der du vertrauen sollst - im Gegensatz zu dir hat er noch etwas zu verlieren.
Natürlich ist nicht jeder Russe ein Urka - nicht einmal jeder russische Kriminelle ist einer! - aber jeder Russe muss sich die Frage stellen: Werde ich eine Begegnung mit einem Urka überleben? Eine zufällige Begegnung auf der Straße ist immer möglich und immer riskant (Blickkontakt ist gefährlich, aber die aktive Vermeidung von Blickkontakt ist noch schlimmer). Eine nicht zufällige Begegnung im Gefängnis ist sicher.
Deshalb muss jeder Russe die Regeln die Ponyatya lernen. Die einzige Möglichkeit, sich bei einer Urka Respekt zu verschaffen, besteht darin, zu beweisen, dass man seine Gebote auf seine eigene, mittelmäßige Art und Weise befolgt. Zum Beispiel, dass du selbstmörderische Tapferkeit respektierst.
Deshalb haben die Russen auch kein Mitleid mit den im Exil Getöteten, von Trotzki bis Litwinenko. Indem sie versuchten, der Folter und dem Tod zu entkommen, haben sie (laut Ponyatya) gewissermaßen ihren menschlichen Status verloren.
Wenn man in der russischen Politik eine Rolle spielen will, muss man seine selbstmörderische Tapferkeit öffentlich zur Schau stellen. Jelzin kam an die Macht, weil er während eines gescheiterten Putsches keine Angst zeigte und vorrückende Panzer mit bloßen Händen aufhielt. Nawalny kehrte aus dem Exil zurück und ließ sich fast freiwillig foltern.
Wenn Sie die HBO-Serie "Tschernobyl" gesehen haben, werden Sie feststellen, dass eine Reihe bemerkenswerter Charaktere ihr eigenes Überleben missachtet und Dinge getan haben, die kein Westler getan hätte (natürlich hätte auch kein Westler diese Reaktorkonstruktion jemals genehmigt).
Es ist nicht so, dass jeder Russe dieses Wertesystem AKZEPTIERT (Dostojewski widmete sein Werk sogar seiner Kritik), aber jeder Russe KENNT es. Lange Zeit war es das einzige Gesetz, das in Russland wirklich funktionierte.
Sowohl in der Kultur als auch in der Folklore findet man verschiedene Versionen der Geschichte einer armen Witwe oder eines Waisenkindes, das seines gesamten Besitzes beraubt wurde. In ihrer Verzweiflung ging sie zum Anführer der Bande, "wor w zakonye", um sich zu beschweren, dass man nach dem "Gesetz der Diebe" seine eigenen Nachbarn nicht bestehlen dürfe. "Ich bitte um Verzeihung", antwortet der Anführer, und am nächsten Morgen findet die Waise/Witwe alle gestohlenen Sachen vor ihrer Haustür wieder, zusammen mit einer Flasche Schnaps als Ersatz für morale Schaden.
Putins Popularität beruht darauf, dass er sich als "wor w zakonye" der alten Schule präsentiert. In seinen Reden bezieht er sich häufig auf den Gefängnisslang - dies wird im Westen in der Regel falsch übersetzt, denn verblüffte westliche Journalisten, die Russisch wie aus dem Lehrbuch beherrschen, sind verwirrt über Ausdrücke wie "in der Toilette umbringen" (wenn die Urkas wollten, dass jemand spurlos verschwindet, ertränkten sie ihn im Latrinenloch - die Leiche würde sich zersetzen, bevor jemand sie findet).
Aber als "wor w zakonye" muss Putin ponyatya folgen. Er ist nicht an die Verfassung gebunden - er kann sie auf der Stelle ändern. Aber er ist an das Gesetz der Diebe gebunden - deshalb kann er Prigoschin nicht anfassen.
Die Autorität des "wor w zakonye" ist streng an Bedingungen geknüpft: Sie gilt so lange, wie die Entscheidungen des Anführers für die gesamte Bande von Vorteil sind. Wenn seine Entscheidungen den Bandenmitgliedern schaden, wird seine Führungsrolle in Frage gestellt (in der Regel in einem blutigen Kräftemessen - der Prigoschin-Putsch war der erste Versuch, ich denke, es werden noch weitere folgen).
Bevor er von rivalisierenden Bandenmitgliedern getötet/entsorgt wird, genießt "wor w zakonye" die eigentümliche Macht, den "obschtschak" zu kontrollieren. Ich entschuldige mich für ein weiteres unübersetzbares Wort - ich schätze, das nächstliegende englische Äquivalent ist "the stash" (das Versteck), aber das russische Wort leitet sich vom Wort "obschtschyj" ab, was so viel wie allgemein / universell / allgemein bedeutet.
Obschtschak ist wie der Kommunismus vor dem Kommunismus - von jedem Gangmitglied nach seinen Fähigkeiten, zu jedem Gangmitglied nach seinen Bedürfnissen. Im Gefängnis hält der Obschtschak Vorrat an Geld, Zigaretten, Schnaps, Drogen, Waffen und allem, was das Überleben sichert. In der russischen Politik ist es die Kontrolle über natürliche Ressourcen, staatliche Unternehmen, das Bankensystem - was immer einen reich macht.
Putins Obschtschak operiert in aller Öffentlichkeit. Einige Teile davon sind sogar als legale Unternehmen eingetragen.
Eine davon ist die Kooperativa Ozero (See-Genossenschaft), formal eine Genossenschaft von Datscha-Besitzern. Jeder Teilnehmer kann einen beliebigen Geldbetrag vom Genossenschaftskonto abheben - eine sehr bequeme Art, Geld zu waschen. Sie können Putin nicht bestechen, aber Sie können jede beliebige Zahlung an die Genossenschaft leisten.
Im russischen politischen Sprachgebrauch ist das "Kooperative Ozero" eine Metapher für Putins inneren Kreis. Im Westen stellt man sich diesen inneren Kreis nach westlichem Muster vor - als enge Berater, Kabinettsmitglieder, Parteiführer usw.
Das ist einfach falsch. Leute wie Lawrow, Medwedew oder Peskow sind wie ein Krimineller, der von der Bande angeheuert wird, aber nicht wirklich ein Bandenmitglied ist. Denken Sie an einen Fluchtwagenfahrer, der für seine Rolle bei einem Bankraub ein Pauschalhonorar erhält.
Unser Komentator Formosa hat einen interessanten Fehler gemacht, als er sagte, dass "Putin seinen inneren Kreis mit der Invasion überrascht hat". Das hat er nicht. Im Gegenteil, es herrscht die Meinung vor, dass die ganze Idee von seinem WAHREN inneren Kreis aus der Datscha-Genossenschaft stammt, insbesondere von Juri Kowaltschuk, auch bekannt als "Putins Bankier".
Da dieser Beitrag bereits zu lang ist, möchte ich ihn mit einer Zusammenfassung darüber beenden, wie man diesen Krieg im Lichte von "Die Begriffe" verstehen kann. Bis etwa 2010 war Putin ein erfolgreicher "wor w zakone", dem sowohl die "Witwen und Waisen" vertrauten (die seine Herrschaft der chaotischen Gesetzlosigkeit der Jelzin-Jahre vorzogen), aber vor allem die Oligarchen/Bandenmitglieder, die die enormen Möglichkeiten genossen, die er für sie geschaffen hat.
Die ersten, eher nachsichtigen Sanktionen begannen unter der Obama-Administration - und verletzten einige der Bandeninteressen. Sie wurden durch die Invasion 2014 etwas kompensiert, aber die ursprünglichen, grandiosen Pläne, den gesamten Donbass einzunehmen und die ukrainische Demokratie zu beenden, wurden nicht verwirklicht.
Was noch schlimmer ist: Es gab weitere Sanktionen. Um seinen Oligarchen mehr Möglichkeiten zu geben, begann Putin, sich an militärischen Interventionen in Syrien und Afrika zu beteiligen (die ansonsten keinen Sinn ergeben - welche Interessen könnte Russland als Land in Mali haben?).
Aber selbst das war nicht so profitabel wie erwartet. Also ließ er sich zum ultimativen Raub überreden: Kiew in drei Tagen einnehmen und ein Bandenmitglied namens Medwedtschuk als "Präsident" der Ukraine einsetzen. Sollte dies gelingen, wären die Möglichkeiten für Plünderungen und Profite enorm. Die Ukraine mag kein sehr reiches Land sein, aber es gibt dort sicherlich mehr zu stehlen als in Südossetien.
Was wir jetzt in Russland erleben, ist also ein klassisches Noir-Thriller-Szenario eines gescheiterten Raubüberfalls. Die Mitglieder der Bande beraten nun, was zu tun ist, und der Rest, von den Auftragskillern wie Peskow bis hin zu den Witwen und Waisen (von denen es immer mehr gibt!), wartet einfach auf ihr Urteil und versucht, nicht ins Kreuzfeuer zu geraten.
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