Polen, so nah und doch so fremd. Zwischen Polen und Deutschland, manchmal auch in der DDR.

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (18) – Prigoschin-Putch

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch):  https://eastsplaining.substack.com/p/prigozhins-putsch

Ja, ich bin spät dran mit der Übersetzung, inzwischen ist viel in der Sache passiert. Trotzdem macht es Sinn den Beitrag zu lesen. 

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Prigoschin-Putch

In Russland nennt man es „Freitag“

Aus Ian Miles Cheong Twitter

Bei zahlreichen Gelegenheiten habe ich hier über die Diskrepanz zwischen der "Export"- und der "Inlands"-Version der russischen Propaganda geschrieben. Englische pro-russische Twitter-Accounts, die oft von Leuten geschrieben werden, die der russischen Sprache nicht mächtig sind, sich aber als "Donbas Devushka" oder "Big Sergey" ausgeben, stellen ein anderes Land dar als pro-russische Russen.

Der Prigoschin-Putsch ist dafür ein gutes Beispiel. In der prorussischen englischen Welt war dies ein weiterer Erfolg von "Putin, dem Unbesiegbaren". In einem brillanten 5D-Schachzug entlarvte er die Verräter und tauchte so stark wie eh und je wieder auf, mit einem geeinten Russland hinter ihm.

Russische Russen zeichnen ein düsteres Bild. Sie konzentrieren sich auf zwei Dinge.

Ausschnitt aus Readovka Telegram Kanal

Erstens: Opfer. Der prorussische russische Blogger "Readovka" berichtet von 15 Gefallenen (einige Schätzungen liegen etwas höher), die meisten von ihnen Piloten.

6 Hubschrauber und ein Flugzeug wurden abgeschossen (laut dem prorussischen russischen Blogger "Rybar"), meist mitsamt ihrer Besatzung. Eine sehr gute Nachricht für die ukrainischen Profis ist der Verlust der Ka-52 mitsamt ihrer Besatzung - ausgebildete Kampfhubschrauberbesatzungen kann man nicht durch frische Mobiks ersetzen! Aber der Verlust des Führungsflugzeugs Il-18(22) und der drei auf elektronische Kriegsführung spezialisierten Mi-8 MTPR reicht aus, um in NATO-freundlichen Kreisen "Sovetskoje Igristoje" zu öffnen.

Aus Telegram Kanal "Powjornutje na Z wojne": "Ich wollte es nicht, aber ich werde es sagen. Der tote Junge von Ka-52 hat eine kleine Tochter hinterlassen".

Die von Wagner getöteten Menschen an Bord dieser Flugzeuge hatten Familien. "Ein Junge an Bord der Ka-52 hatte eine kleine Tochter", berichtet ein pro-russischer russischer Milblogger mit "Z" in seinem Spitznamen. Ich frage mich, was er von den pro-russischen englischen Idioten hält, die diesen Putsch als "relativ unblutig" bezeichnen?

Die russischen Russen fühlen sich nicht "geeint wie eh und je". Das ist die zweite Sache. "Die Kolonne der Wagneristen bewegte sich nicht auf dem Asphalt, sondern in den Herzen der Menschen und spaltete die Gesellschaft in zwei Teile", behauptet Alexandr Chodakowski.

"Unser Land wird nie mehr dasselbe sein", behauptet Alexandr Chodakowski, und er meint es nicht gut - aus seinen Telegramm-Kanal

Sie fühlen sich auch nicht "stärker". Sie sahen eine brennende Raffinerie in Woronesch, sie sahen seltsame "Panzerabwehr"-Gräben und Sperren, die in Panik auf der Autobahn M4 errichtet wurden.

Sie fragen sich: Wie ist das überhaupt möglich, dass eine feindliche Kolonne einen ganzen Tag lang ungehindert auf Moskau zurasen kann? Warum hat Putin harte Strafen für die Rebellen versprochen - und ohne Erklärung einen Rückzieher gemacht? Der Konsens im russischen Russian Telegram ist, dass der Putsch Putin und Russland nicht stärker, sondern schwächer aussehen lässt.

Chodakowski fährt fort und sagt: "Dies ist der vierte Putsch in meinem Leben. Jeder von ihnen begann unter einem wohlwollenden Vorwand, aber jeder machte die Dinge noch schlimmer (...) Millionen von Menschen erlebten den schrecklichen Gedanken, dass alles, wofür sie standen, an einem Tag ausgelöscht werden könnte. Diese Millionen werden den Tätern niemals in die Augen sehen können, ohne sie für den Verlust unseres Hubschraubers zu verurteilen, der von unseren eigenen Leuten von gestern abgeschossen wurde."

Vier Putsche in einem Leben, das ist ein Haufen! Aber in Russland nennt man das "Freitag".

Viele Menschen im Westen können das alles einfach nicht glauben. Was wollte Prigoschin damit erreichen? Das ist zu irrsinnig, zu schlecht geplant und ausgeführt. Hier muss es eine versteckte Absicht geben! Offensichtlich ist das alles nur eine Show!

Aus dem Telegram-Kanal “Wojenkor Kotenok Z

"Offensichtlich ist es keine Show" - antwortet ihnen ein anderer pro-russischer Russe, Wojenkor Kotenok Z - "das Flugzeug ist verloren gegangen, die Piloten sind gestorben". In seiner Tirade beschuldigt er die Behörden der groben Nachlässigkeit. Er sagt, nicht der Putsch sei schlecht vorbereitet gewesen, sondern die Präventivmaßnahmen seien wirklich lächerlich.

"12 Säcke mit Sand und ein Maschinengewehr? Das ist lächerlich, der Panzer würde nicht einmal abgelenkt, er würde einfach weiterfahren", sagt er und stellt die 100-Millionen-Rubel-Frage: "Was ist, wenn der Feind morgen dasselbe tut, aus den Wäldern des Gebiets Sumy unter Umgehung von Kaluga eindringt und in Richtung Moskau reitet?".

Ein Meme, das in den polnischen sozialen Medien während der Johannisnacht kursiert (oder, wie wir gerne sagen, "die Nacht der Kupała, der alten slawischen Gottheit aller guten Dinge im Leben")

In den polnischen sozialen Medien gab es ein Meme, in dem Prigoschin extrem verkatert aussah (wie er es normalerweise tut) und sagte: "Ich hatte einen zu viel, kann mich an nichts erinnern, ich hoffe, ich habe nichts allzu Dummes getan...".

Wenn man sich die Geschichte der Putsche ansieht, sehen sie meist so aus. Diese Frage stellt man bei gescheiterten Putschen. Bei erfolgreichen Putschen stellt man sie (normalerweise) nicht, aber ich denke, sie sind ähnlich. Die letzteren haben einfach Glück gehabt.

Der "Bierhallenputsch" eines Adolf Hitler von 1923 endete ebenfalls in der Lächerlichkeit. Aber wer hat 10 Jahre später zuletzt gelacht?

Die wichtigste Zutat für jeden Putsch ist jemand, der bereit ist, in Anlehnung an Cesare Borgia zu sagen: "aut Caesar, aut nihil". Entweder du gewinnst und wirst zum Tyrannen oder du gehst unter. Man setzt alles aufs Spiel und lässt die Würfel rollen. Entweder sie haben Glück, wie der ursprüngliche Cäsar - oder sie haben kein Glück und enden als Fußnote.

Diese Haltung ist die Essenz der russischen Seele, wie niemand anderes als Fjodor Michailowitsch Dostojewski selbst behauptet. In seinem Roman "Der Spieler", in dem er sich mit seiner eigenen Spielsucht auseinandersetzt, vergleicht er die Russen häufig mit Franzosen, Deutschen und Polen (nach Dostojewski die verachtenswertesten aller Nationen).

Der Roman ist in der ersten Person geschrieben (und wie wir aus der Geschichte wissen, wurde er in Eile geschrieben), so dass es unmöglich ist, die Meinung des Autors von der seines Alter Ego Alexej Iwanowitsch zu unterscheiden.

In einer Szene behauptet Alexej, dass "das Roulett geradezu für die Russen erfunden ist" - denn was er am meisten verachtet, ist "die deutsche Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzubringen". Alexej will nur eines: entweder einen großen Gewinn beim Roulette oder alles verlieren und sich umbringen. Welches dieser Ergebnisse es sein wird, ist unerheblich, solange es sich nicht um ein langweiliges bürgerliches Dasein als "Hausvater" der Familie handelt, "der furchtbar tugendhaft und außerordentlich redlich ist, schon so redlich, daß man sich fürchten muß, ihm näherzutreten" (cmos: zitiert nach einer deutschen Übersetzung, den Übersetzer könnte ich aber nicht feststellen).

Dieses Plakat von "Los Hermanos Karamazov" versucht eindeutig zu vermitteln, dass es sich um eine Geschichte über etwas anderes handelt, als es tatsächlich der Fall ist. Aber ich liebe es trotzdem. Und seien wir mal ehrlich: Juli Borissowitsch Briner wäre ein großartiger Prigoschin, wenn das alles als Hollywood-Film umgesetzt würde.

Prigoschin ist eine Figur, die direkt aus Dostojewskis Roman stammt. Das ist kein Kompliment. Wie Dmitri Karamasow hat er keine Angst vor dem Töten, er hat keine Angst vor dem Sterben, das einzige, was er fürchtet, ist ein langweiliges, bürgerliches Leben. Wie Stawrogin hat er keine Moral, die ihn aufhält.

Auch wenn der Westen natürlich seinen Anteil an Putschen und Staatsstreichen hat, stellen sie ein besonders wichtiges Element der russischen politischen Kultur dar. In der russischen Sprache gibt es zwar Ausdrücke für "Staatsstreich", "Bürgerkrieg" und "Meuterei" (bzw.: pereworot, graschdanskaja wojna, matiesch), aber es gibt auch einen Oberbegriff, der all das und noch mehr umfasst: smuta. Dieses Wort wurde auch im russischen Telegramm vom letzten Wochenende häufig verwendet.

Wladimir Solowjew ist (wie immer) deprimiert darüber, was dieser gescheiterte Putsch über die Fähigkeit Russlands aussagt, Angriffe auf Moskau abzuwehren. Er ist nicht regierungsfeindlich, ganz im Gegenteil. Aber selbst die eifrigsten Kreml-Propagandisten sind nicht in der Lage, daraus etwas Gutes zu machen. Aus dem Youtube-Kanal "Russian Media Monitor".

Wenn man sich das Bild von Stalin, Putin oder Peter dem Großen ansieht, hat man den Eindruck, dass die Macht stabil ist. Das ist eigentlich falsch, aber der unglückliche Künstler würde es nicht überleben, ein genaueres Bild zu malen.

Peter der Große (1672-1725) wird gewöhnlich als Vater des modernen Russlands angesehen. Akzeptieren wir dies, um der Diskussion willen, und beachten wir eine interessante Tatsache.

Wie alle Tyrannen ließ Peter der Große die Frage der Nachfolge offen und gab vielen Anwärtern vage Versprechen. Das ist eigentlich ganz typisch: Praktisch jeder Logan Roy aus jeder historischen Epoche hat das gleiche getan.

Dies führte natürlich zu einer Reihe von Verschwörungen und Intrigen, die zum Tod seines Sohnes und zu einer kurzen Herrschaft von Katharina I. (nicht zu verwechseln mit Katharina der Großen) führten.

Sie war eine Bürgerliche polnischer Herkunft (Marta Helena Skowronska), sie überlistete alle ihre Rivalen, aber ihre Herrschaft wurde als Gräuel angesehen. Ihre Nachfolger wurden jedoch immer verrückter, bis hin zum Baby-Zar Iwan VI., der im Alter von 2 Monaten gekrönt, bald darauf von seiner Nichte gestürzt und dann 20 Jahre lang in Einzelhaft gehalten wurde, um dann als Nebeneffekt eines gescheiterten Staatsstreichs ermordet zu werden, von dem er nicht einmal wusste - was für ein Leben!

Es genügt zu sagen, dass es im 18. Jahrhundert ein Kontaktsport war, ein russischer Zar zu sein. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass man von seiner Frau, Mutter oder Tante ermordet wurde - Frauen gingen häufig als Siegerinnen aus den Intrigen im Palast hervor, so dass wir in dieser Zeit eine Reihe sehr interessanter Frauen an der Spitze hatten.

Das alles änderte sich mit Kaiser Paul, der eine strenge patrilineare Erbfolge einführte (um Kendall Roy zu zitieren: "Ich bin der älteste Junge!"). Er hasste seine Mutter (und er hatte wirklich gute Gründe, die weit über das übliche Freud-Ding hinausgingen), aber kurz nachdem er dieses Gesetz verkündet hatte, wurde er von seinem Bruder ermordet. Was hat er sich dabei gedacht?

Natürlich starben einige Zaren eines natürlichen Todes - es ist unmöglich, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, denn in ihren späteren Tagen, als sie älter und schwächer wurden, isolierten sie sich in der Regel und waren nur von ihrem engsten Gefolge umgeben. Da wir ansonsten wissen, dass die erfolgreichsten Putsche genau die sind, die von der vertrauenswürdigsten Entourage durchgeführt werden ("et tu, Brute"?), werden wir die genaue Zahl wohl nie erfahren. In einigen Fällen gibt es im Grunde nur eine Person, die sagte, dass "seine Majestät friedlich im Schlaf gestorben ist" (während sie verzweifelt versuchte, ein Messer abzuwischen).

This man just gotta go, declared his enemies. But the ladies said: don’t you try to do it, please. No doubt this Rasputin had lot of hidden charms - though he was a brute, they just fell into his arms. Then one night some men of higher standing set a trap (they’re not to blame!). Come to visit us, they kept demanding. And he really came… wenn es einen echten Russlandversteher in Deutschland gab, dann war es Frank Farian von Boney M. Via Youtube.

Nochmals: Auch in den westlichen Monarchien kam es häufig zu Erbschaftsstreitigkeiten. Aber ich glaube nicht, dass es in Westminster nach 1688 jemals dazu gekommen ist. Hat es das? Ich bin mir nicht sicher, die Frage ist echt.

Im Allgemeinen konnte man in der Neuzeit im Westen - und man tat es auch! - eine Revolution durchführen, um die Monarchie zu stürzen. Aber eine Palastintrige, bei der eine Nichte ihren Cousin ermordet, um dessen Krone zu stehlen? Da fällt mir wirklich kein Beispiel ein. Außer natürlich in Russland, denn dort wurden Palastputsche genau zur gleichen Zeit, nämlich zur Zeit Peters des Großen, zur Spezialität des Hauses.

Nur die erfolgreichsten russischen Putsche haben es in das westliche Allgemeinwissen geschafft. Jeder weiß über die bolschewistische Revolution Bescheid, aber nicht so viele über den Pugo-Putsch oder die Machnowststchina. Es gibt einen Grund, warum man einen Oberbegriff für alle Arten von meuterndem Verhalten braucht, denn einige davon sind wirklich schwer zu klassifizieren.

Ich bin nicht so verrückt, die nächste Smuta in Russland vorherzusagen, aber Putin wirkte nach dem Prigoschin-Putsch schwach. Am Morgen verkündete er harte Strafen und am Abend eine vollständige Amnestie.

So etwas macht man nicht, das ist ein Grundprinzip von Macchiavelli. Sei hart, wenn du musst, sei nachsichtig, wenn du musst, aber nicht gegenüber derselben Person am selben Tag. Du musst dich wirklich entscheiden, bevor du an die Öffentlichkeit gehst.

Ein Auszug aus: Aleksandr Gamow, "Wlasti ne budut presledowat' wagnerowtsew", Komsomolskaya Pravda, 24.6.2023

Und dies ist öffentlich genug, um in den offiziellen russischen Medien erwähnt zu werden. Die "Komsomolskaja Prawda" (mit dem Spitznamen "Putins Zeitung") stellt Peskow genau diese Frage und erhält eine vage, ausweichende Antwort. Das sieht nicht gut aus.

In Russland ist die "Diskreditierung der Streitkräfte" ein Verbrechen, das mit Gefängnis bestraft wird. Bis zum vergangenen Wochenende haben sich nur einige wenige Militärblogger mit gutem Ruf getraut, dies zu tun. Jetzt kritisieren Leute, die "Z" in ihren Spitznamen schreiben, offen Schoigu und indirekt auch Putin.

Aber das Wichtigste, was ich damit sagen will, ist, dass der Putsch von Prigoschin nichts Ungewöhnliches für Russland war. Im Gegenteil, das ist eine ganz normale Smuta. Jeder Russe mittleren Alters wie Chodakowski hat schon vier davon gesehen, also kann man ihm verzeihen, dass es ihm ein bisschen egal ist.

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