Polen, so nah und doch so fremd. Zwischen Polen und Deutschland, manchmal auch in der DDR.

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (12) – Über den „Stellvertreterkrieg“ in der Ukraine…

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/about-the-proxy-war-in-ukraine

------------------- Anfang des Gastbeitrages -------------------

Über den "Stellvertreterkrieg" in der Ukraine...

Für unsere Freiheit und eure

Viele Menschen im Westen versuchen, den ukrainischen Unabhängigkeitskampf als „Stellvertreterkrieg“ zu diskreditieren. Du hast vielleicht bemerkt, dass diese Beleidigung in Osteuropa auf taube Ohren stößt. Hier ist der Grund dafür.

Karte von Alexander Altenhof - CC BY-SA 4.0

Dies ist die Karte von Europa im Jahr 1815. Es ist wahrscheinlich die schlimmste Zeit in der Geschichte aller unserer Länder – nicht nur Polen und die Ukraine fehlen auf der Karte, sondern beispielsweise auch Rumänien, Griechenland, Belgien und Italien. Norwegen wird großzügig erwähnt, ist aber eigentlich nicht unabhängig (es ist ein Juniorpartner von Schweden).

Die Koalition der europäischen Tyranneien gegen die französische Revolution entwickelte sich zur antinapoleonischen Koalition und schließlich zur Heiligen Allianz. Europäische Supermächte, insbesondere Österreich, Russland und Preußen, schufen eine Reihe gegenseitiger Zusicherungen, um die göttliche Macht der Könige zu schützen, indem sie alle revolutionären Bewegungen in Europa niederschlugen.

1815 sah die Demokratie aus wie eine verlorene Sache. Sollten sich Menschen – etwa in Rom – je gegen die klerikale Tyrannei des Kirchenstaates auflehnen und sagen „Wir wollen in einer säkularen Republik leben, mit freien Wahlen und Redefreiheit“, würde der Papst einfach den Österreicher um Hilfe rufen, französische oder spanische Armeen in den italienischen Marionetten-„Königreichen“ stationieren und die Rebellion im Blut ertränken. Wie es 1821, 1831, 1849 und 1859 geschah.

Ich erwähne Italien, weil damals die osteuropäischen Nationen das gleiche Schicksal mit einigen westlichen Nationen teilten, die ebenfalls „nicht auf der Landkarte vorhanden“ waren. Daraus ergaben sich einige Trivia: Italien wird in der polnischen Hymne erwähnt und umgekehrt, weil wir uns damals als Waffenbrüder im gesamteuropäischen Kampf gegen das internationale Unterdrückungssystem fühlten („Papst und Zar, Metternich und Guizot“…) .

Die polnische Hymne beginnt mit der Aussage „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben“. Wenn du es der ukrainischen Hymne überraschend ähnlich findest, dann deshalb, weil das polnische Kriegslied von 1797 eine Inspiration für das panslawische patriotische Lied „Hej Slawen!“ war, das wiederum eine Inspiration für die ukrainische Hymne wurde.

Die polnische Hymne geht dann in eine Deklaration über: „Marsch, Marsch, Dąbrowski, von Italien nach Polen“. Für Kinder, die es zum ersten Mal lernen, ist es seltsam: Warum geht es in der polnischen Hymne darum, von Italien nach Polen zu marschieren, sollte es nicht umgekehrt sein? Und wer zum Teufel ist Dąbrowski?

Die italienische Hymne besagt, dass der „österreichische Adler“ in Begleitung von Kosaken polnisches und italienisches Blut getrunken hat, aber er wird daran ersticken. Dieses Gefühl der Brüderlichkeit war im 19. Jahrhundert real. Damals kämpften polnische Freiwillige für die italienische Freiheit, aber auch italienische Revolutionäre für die Freiheit der Balkanstaaten.

Ein Denkmal, das Tadeusz Kościuszko gewidmet ist – dem Held Polens und der USA (Bildnachweis unbekannt)

Die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts glaubten allgemein, dass die Förderung der Freiheit überall die Sache der Freiheit voranbringen würde. Wenn du dich die Karte von 1815 ansiehst, war das nicht so dumm. Wenn das österreichische Kaiserreich in Italien geschlagen wird, könnten polnische Revolutionäre in Galizien eine Chance haben.

Fast jedes Land auf dieser Karte ist eine autokratische, absolute Monarchie (die Schweiz ist die größte Ausnahme). Keine Verfassungen! Sie kämpften gegen Napoleon, genau um die Idee des Konstitutionalismus zu töten – und 1815 schien es, als hätten sie es geschafft.

Natürlich war es für beide Seiten, Revolution und Reaktion, sehr naiv. Die Reaktionäre waren unangenehm überrascht, dass dieses undurchdringliche System nicht so undurchdringlich war. Mit Ausnahme von Russland haben sich alle diese Länder innerhalb von 100 Jahren in Republiken oder konstitutionelle Monarchien verwandelt.

Die Überraschung der Revolutionäre war noch bitterer. Die Gleichsetzung von „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ erwies sich als Irrtum, als unsere Länder 1918 (wieder) auf der Landkarte auftauchten. Kurze Experimente mit der Demokratie endeten ziemlich bald in autokratischen Putschen, und in den 1930er Jahren war es (fast) alles Diktatur.

Was noch schlimmer war: Es stellte sich heraus, dass die bis dahin unterdrückten kleineren Nationen nicht kooperieren konnten. 1848 hieß es „Freiheit für einen bedeutet Freiheit für alle“. 1918 wurde daraus „Polen gegen alle Nachbarn“, „Tschechoslowakei gegen alle Nachbarn“, „Ungarn gegen alle Nachbarn“, „Jugoslawien gegen alle Nachbarn“, „Griechenland gegen alle Nachbarn“ – und so weiter.

Mitteleuropa Ende 1940. Die meisten Länder, die um 1918 auf dieser Karte (wieder) auftauchten, verschwanden wieder von der Karte. Jugoslawien ist noch da, aber nicht mehr lange. Karte von San Jose CC BY SA 3.0

Dies führte zu einer Reihe der schrecklichsten Fehler in der Außenpolitik unserer Länder. Am Ende kämpften wir entweder allein gegen Hitler und/oder Stalin – und verloren, wie Polen. Oder als ihre Vasallen, die einfach „freiwillig“ aufgegeben haben, in der Hoffnung, dem Schicksal Polens zu entgehen. Bis 1940 waren unsere Länder wieder größtenteils von der Landkarte verschwunden (auch wenn einige von ihnen als Marionettenstaaten überlebten).

Die polnischen Soldaten, die es aus dem gefallenen Land geschafft haben (meistens über Rumänien und Ungarn), taten, was ihre Vorfahren in ähnlicher Lage taten. „Polen ist noch nicht verloren“, also kämpften sie in Frankreich, Norwegen und Nordafrika.

Polnische Kampfpiloten des 303. RAF-Geschwaders schützten den britischen Himmel während des Blitzes. Sie hatten gehofft, den polnischen Himmel irgendwann schützen zu können - sie hatten nie die Gelegenheit dazu.

Gene Hackman als Sosabowski in dem epischen Attenborough-Film – kurz davor, einen Stellvertreterkrieg für Polen in Holland zu führen

Sosabowskis Fallschirmjäger trainierten in der Hoffnung, in Polen abgesetzt zu werden. Stattdessen wurden sie nach Arnheim geschickt. Die Briten sagten, es sei „eine Brücke zu weit“, aber für sie waren es immer noch „99 Brücken vor Polen“.

Für die Soldaten von Maczek und Anders war der Westfeldzug des Zweiten Weltkriegs ein Stellvertreterkrieg. So wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ein Stellvertreterkrieg für Tadeusz Kościuszko und Kazimierz Pułaski war. Der Amerikanische Bürgerkrieg wurde von den Soldaten der Polnischen Legion als Stellvertreterkrieg angesehen, der Spanische Bürgerkrieg von den Soldaten der Polnischen Brigade („Dąbrowszczacy“).

„Im Namen Gottes, für unsere und eure Freiheit“ - Banner des (wie üblich) gescheiterten polnischen Aufstands von 1830-1831

Wir halten das Motto „Für unsere und eure Freiheit“ hoch. Manchmal kannst du nicht direkt für dein Land kämpfen, also kämpfst du für ein anderes Land – es ist dann ein Stellvertreterkrieg. In Osteuropa verehren wir Menschen, die in diesen Stellvertreterkriegen gekämpft haben, als unsere größten Helden.

Ich werde es mit nur einem Beispiel beenden: Józef Bem alias Murat Pasha. Er kämpfte für Polen. Als es nicht mehr ging, kämpfte er für Ungarn. Als es nicht mehr ging, kämpfte er für die Türkei. Er starb in Aleppo.

Der große polnische Dichter Cyprian Norwid hat ein sehr intensives Gedicht über seinen Tod geschrieben, in dem er sein imaginäres Begräbnis beschreibt – stilisiert als surreale antike Zeremonie. Wie jeder anständige Dichter der Romantik war Norwid ein Drogenkonsument, und seine Vorstellungskraft war nicht von dieser Welt.

Das Gedicht wurde 1969 von Czesław Niemen (Roger Waters alberte damals noch mit „Ummagumma“) als psychodelischer Progressive Rock umgearbeitet. Auch wenn du die polnischen Worte nicht verstehst, kannst du das vom grimmigen Chor wiederholte lateinische Motto hören – angeblich ein Zitat von Hannibal – „ius iurandum patri datum usque ad hanc diem ita servavim“ („das Ehrenwort, das ich gegeben habe meinem Vater [Land] habe ich bis heute gehorcht“).

Höre dich diesen Song an - und sei es nur, um deine Prog-Rock-Hipster-Referenzen zu verbessern. Und denke daran, was wir denken, wenn jemand sagt: „Die Ukraine führt einen Stellvertreterkrieg“. Unsere Antwort: „Ja, und?

------------------- Ende des Gastbeitrages ---------

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Betreff: , , ,

Kategorien:Ostklärung

Kommentare verfolgen: RSS 2.0

Trackback: trackback

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Und was meinst Du?

Um zu kommentieren, musst Du dich registrieren und angemeldet sein. Dank und Grüße an die alle Spammer.