Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/is-russia-evil
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Ist Russland böse?
Wie man in den Medien sagt: „Die Antwort wird dich überraschen!“
Entschuldigung für den Clickbait in der Überschrift, ich konnte einfach nicht widerstehen. Natürlich geht es nicht darum, ob sie buchstäblich böse ist. Es gibt jedoch drei Dinge über Russland, die ich hier erörtern möchte. Die ersten beiden sind die offensichtlichsten: Das heutige Russland ist imperialistisch und revanchistisch.
Wie definiere ich diese Begriffe? Wie immer versuche ich, es einfach zu machen. Es gibt Länder, in denen der Gedanke, „in ein anderes Land einzumarschieren“, als abwegig gilt und bei den Wahlen einfach nicht durchkommen würde. Diese Länder sind nicht imperialistisch.
Es gibt jedoch Länder, in denen die Mehrheit der Öffentlichkeit tatsächlich sagen würde: „Tolle Idee, lasst es uns tun!“. Manchmal marschieren ihre Führer in ein anderes Land ein, nur um ihre Beliebtheitswerte zu VERBESSERN! Diese Länder sind imperialistisch.
Ist Russland das einzige imperialistische Land der Welt? Nein, natürlich nicht! Aber seien wir uns erst einmal einig, dass dieser Unterschied real und greifbar ist. Kanada und die USA zum Beispiel sehen sich aus osteuropäischer Sicht sehr ähnlich, und doch ist das eine sehr unimperialistisch (wenn der Premierminister sagt: „Lasst uns bei jemandem einmarschieren“, würde das ein schnelles Misstrauensvotum nach sich ziehen), das andere das genaue Gegenteil. Ähnlich verhält es sich in Osteuropa: Während in Russland eine Invasion immer eine gute Idee zu sein scheint, ist dies in Tschechien nicht der Fall (und Russen, Tschechen und die anderen Slawen benutzen die gleichen Worte, um an der Bar „zwei Bier“ zu bestellen).

Nachdem wir den Imperialismus definiert haben, wollen wir uns nun dem Revanchismus zuwenden. Einige Länder waren in ihrer Vergangenheit imperialistisch. Sie besaßen früher viele Gebiete, die jetzt jemand anderem gehören - und dennoch finden sie es in Ordnung, das alles zu verlieren. Denke an Schweden und Dänemark, denen früher fast alles um die Ostsee herum gehörte und die auch in Warschau ein Paar Dinge besaßen, und dennoch würde in beiden Ländern die Idee „Lasst uns Norwegen zurückerobern, es gehört zu Recht uns, denn es gehörte vor Jahrhunderten uns!“ nicht einmal in einem Stand-up-Comedy-Club aufkommen, geschweige denn im Rikstag.
Aber es gibt ein Land, in dem das Parlament eine Rede wie „Lasst uns in Estland einmarschieren, es gehört uns seit dem Vertrag von 1710“ beklatschen würde. Kannst du erraten, welches Land das ist? Das ist knifflig. Estland war früher im Besitz von Schweden, Dänemark und (teilweise) Polen!
Aber natürlich ist es nicht kompliziert. Du weiß es bereits. In jedem nicht-revanchistischen Land wäre diese Idee abgelehnt worden. In meinem Land würde sie nicht einmal vom Parlament abgelehnt werden. Politiker, die sagen: „Wir müssen uns zurückerobern, was früher uns gehörte“, sitzen nicht im Parlament, und das nicht, weil sie die Wahl verloren haben. Sie konnten nicht genug Unterschriften sammeln, um bei der Wahl anzutreten. In meinem Land ist Revanchismus für einige Troll-Accounts in den sozialen Medien reserviert.
Aber natürlich gibt es ein Land, in dem die Idee „Lasst uns die Krim zurückerobern, sie gehört uns seit 1783“ zu stehenden Ovationen im Parlament führt. Revanchismus gehört nicht zum Mainstream der russischen Politik, er ist DER Mainstream. Der verstorbene Alexej Nawalny, der von Putin ermordet wurde, war früher Oppositionsführer und unterstützte dennoch den russischen Revanchismus. Seine Verteidiger behaupten, er habe es tun müssen, weil er sonst in der russischen Politik nicht gezählt hätte - aber das ist eben mein Punkt.
Wenn du in der russischen Politik bestehen willst, musst du immer wieder sagen: „Wir müssen uns zurückerobern, was uns einst gehörte, von Finnland bis Armenien“. Wenn man in Russland sagt: „Lasst die Vergangenheit Vergangenheit sein“ - so wie wir in den nicht-revanchistischen Ländern über die Reiche sprechen, die unsere Vorfahren vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten verloren haben - dann wird man selbst zu Vergangenheit.

Russland ist nicht das einzige revanchistische Land der Welt. Da fällt mir Ungarn ein, mit seinem allgegenwärtigen „Nem! Nem! Soha!"-Karten. Aber sie sind nicht imperialistisch - nicht einmal Orban würde so etwas Verrücktes tun, wie in Kroatien einzumarschieren, um „Zagreb zurückzuerobern“. Das würde ihm endgültig den Garaus machen.
Diese Kombination aus Revanchismus und Imperialismus ist extrem gefährlich - und um es kurz zu machen, würde ich sie als „böse“ bezeichnen. Wenn man direkt neben Russland wohnt, weiß man nie, wann sie bei einem einmarschieren werden. Es ist nicht so einfach wie „ärgere den Bären nicht und alles wird gut“. Sie könnten trotzdem bei dir einmarschieren. Die baltischen Staaten haben 1940 alles getan, um „den Bären nicht zu verärgern“. Sie unterzeichneten Freundschafts- und Kooperationsverträge - ohne Erfolg. Das macht die Situation nur noch schlimmer, denn wenn man einen solchen Vertrag unterzeichnet, können sich die russischen Truppen frei im Land bewegen und man kann nicht einmal eine kohärente Verteidigung für den Fall einer Invasion planen.
Und es ist nicht so, dass die Invasion ohne Opfer ablaufen wird. Estland hat sich den Sowjets nicht widersetzt und dennoch haben sie viele sinnlose Gräueltaten begangen, wie den Abschuss des letzten zivilen Flugzeugs, das den Flughafen Tallinn verlassen hat, Aero Flight 1631. Einfach aus Bosheit.
Was ich oben beschrieben habe, sollte eigentlich ziemlich offensichtlich sein - es sind einfach Fakten und gesunder Menschenverstand. Ich bin jedoch alt genug, um zu wissen, dass die Jeffrey-Sachs-Fans einfach alles leugnen werden. Nun, ich bin gerne bereit, das Thema weiter zu vertiefen, wenn jemand Fragen hat.
Es gibt noch einen dritten Aspekt, der etwas kontroverser sein könnte. Während man über mich sagen kann, dass ich politisch russophob bin (schuldig im Sinne der Anklage!), bin ich auch ein wenig russophil, was bedeutet, dass ich mich schon in der Oberschule in die russische Literatur verliebt habe (das ist lange her). Ich werde jetzt eine pauschale Verallgemeinerung vornehmen, die du vielleicht kontrovers finden wirst - und ich würde mich wirklich gerne mit jemandem darüber streiten, der mehr liest als ich.

Ein häufiges Motiv der russischen Kultur ist der Triumph des Bösen und die nihilistische Leugnung, dass Tugenden wie Wahrheit oder Gerechtigkeit überhaupt existieren. Einige russische Autoren waren echte Nihilisten, wie Eduard Limonow, der Mitbegründer der Nationalbolschewistischen Partei (deren Name ein nettes Wortspiel mit dem Nationalsozialismus war; so gibt es in Russland neben echten Nazis auch Nazibolschewisten). Einige russische Autoren waren Anti-Nihilisten (vor allem Fjodor Dostojewski), aber sie schrieben so leidenschaftlich über das Böse, dass es zu einer Art fehlgeleiteter Fangemeinde kam. Einige russische Autoren waren „gute Nihilisten“, die darauf abzielten, die überholten Werte zu zerstören, in der Hoffnung, dass aus ihren Ruinen eine neue, bessere Gesellschaft entstehen würde (Turgenjew, Tschernyschewski).
Man kann tatsächlich ein russisches Nihilismus-Schema entwerfen, das der Dungeons & Dragons-Ausrichtungstabelle ähnelt. Es gibt Charaktere, die einfach nur böse sind, wie Dostojewskis Stawrogin. Er ist so böse, dass die guten alten Westernschurken in Tränen ausbrechen würden, wenn sie ihm begegnen. Gogol zeichnete sich dadurch aus, dass er „sympathische Bösewichte“ schuf - solche, die einen wie alle anderen Bösewichte töten, aber auch den einen oder anderen Witz reißen, so dass man mitlacht, wenn er seine Folterwerkzeuge vorbereitet. Und am gefährlichsten sind wohl die „idealistischen Bösen“ wie Raskolnikow, die töten, weil sie glauben, dass sie es für das Allgemeinwohl tun.

Spielt das eine Rolle? Nehmen wir einmal an, dass es tatsächlich eine Rolle spielt, nur um des Argumentes willen.
Wenn man als junger Mensch mit russischer Literatur aufgewachsen ist (und ich kann das aus den oben beschriebenen Gründen nachempfinden), hat man als Erwachsener nur die Wahl, was für ein Bösewicht man werden will. Alternativ könnte man auch einen nicht-bösen Weg wählen, aber in der russischen Kultur ist diese Art von Charakter zum Verlieren und Sterben verurteilt, denn das Böse muss am Ende siegen.
Der Drahtzieher der ersten russischen Invasion von 2014, Igor Girkin/Strelkow, kennt sich in der russischen Literatur bestens aus. Nicht nur in den Klassikern, wie Dostojewski - sondern auch in den modernen Klassikern, wie den Brüdern Strugazki. Ich habe ihn hier häufig zitiert.
Ich denke, Girkin hat sich ganz bewusst als „idealistischer Nihilist“ dargestellt, der die schrecklichsten Dinge tat, Tausende von Toten verursachte, den Abschuss eines zivilen Flugzeugs befahl usw. - in dem Glauben, dass er Mütterchen Russland eine strahlende Zukunft bringen würde. Dasselbe gilt für Lenin, der von dem klassischen Roman über den „idealistischen Nihilismus“, „Was tun?“ von Tschernyschewski, inspiriert wurde.
Der verstorbene Prigoschin war der Inbegriff des „sympathischen Bösen“, direkt von Gogol und Dostojewski. Natürlich nicht, weil er sie gelesen hat, sondern weil sie ihre Figuren auf realen russischen Typen basieren (Dostojewskis Inspiration war ein Kerl, den er im Gefängnis traf, der seinen Vater wegen seines Erbes ermordet hatte, und abgesehen von diesem winzigen Detail war er der netteste Kerl, den er je getroffen hat). Und Putin ist - wie ich schon oft gesagt habe - ein klassischer „pakan“, das reine Böse, das von weniger Bösen gefürchtet wird.
Das Böse und der Nihilismus in der russischen Literatur sind das, was der Wilde Westen und die Cowboys für die amerikanische Literatur sind. Es ist ihre „specialite de la maison“. Für die ukrainische Literatur ist es die Freiheit - angefangen bei Taras Schewtschenko, einem befreiten Leibeigenen, bis hin zu Serhij Schadan.
Aber wie gesagt, ich habe keinen Abschluss in Literaturwissenschaft, und während ich mir bei den ersten beiden Punkten, die ich angeführt habe, ziemlich sicher bin („Russland ist böse, weil es imperialistisch und revanchistisch ist“), bin ich offen für eine Diskussion über den dritten Punkt. Ich würde sogar gerne mit einem anderen Dostojewski-Liebhaber sprechen.
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