Polen, so nah und doch so fremd. Zwischen Polen und Deutschland, manchmal auch in der DDR.

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (18) – Prigoschin-Putch

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch):  https://eastsplaining.substack.com/p/prigozhins-putsch

Ja, ich bin spät dran mit der Übersetzung, inzwischen ist viel in der Sache passiert. Trotzdem macht es Sinn den Beitrag zu lesen. 

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Prigoschin-Putch

In Russland nennt man es „Freitag“

Aus Ian Miles Cheong Twitter

Bei zahlreichen Gelegenheiten habe ich hier über die Diskrepanz zwischen der "Export"- und der "Inlands"-Version der russischen Propaganda geschrieben. Englische pro-russische Twitter-Accounts, die oft von Leuten geschrieben werden, die der russischen Sprache nicht mächtig sind, sich aber als "Donbas Devushka" oder "Big Sergey" ausgeben, stellen ein anderes Land dar als pro-russische Russen.

Der Prigoschin-Putsch ist dafür ein gutes Beispiel. In der prorussischen englischen Welt war dies ein weiterer Erfolg von "Putin, dem Unbesiegbaren". In einem brillanten 5D-Schachzug entlarvte er die Verräter und tauchte so stark wie eh und je wieder auf, mit einem geeinten Russland hinter ihm.

Russische Russen zeichnen ein düsteres Bild. Sie konzentrieren sich auf zwei Dinge.

Ausschnitt aus Readovka Telegram Kanal

Erstens: Opfer. Der prorussische russische Blogger "Readovka" berichtet von 15 Gefallenen (einige Schätzungen liegen etwas höher), die meisten von ihnen Piloten.

6 Hubschrauber und ein Flugzeug wurden abgeschossen (laut dem prorussischen russischen Blogger "Rybar"), meist mitsamt ihrer Besatzung. Eine sehr gute Nachricht für die ukrainischen Profis ist der Verlust der Ka-52 mitsamt ihrer Besatzung - ausgebildete Kampfhubschrauberbesatzungen kann man nicht durch frische Mobiks ersetzen! Aber der Verlust des Führungsflugzeugs Il-18(22) und der drei auf elektronische Kriegsführung spezialisierten Mi-8 MTPR reicht aus, um in NATO-freundlichen Kreisen "Sovetskoje Igristoje" zu öffnen.

Aus Telegram Kanal "Powjornutje na Z wojne": "Ich wollte es nicht, aber ich werde es sagen. Der tote Junge von Ka-52 hat eine kleine Tochter hinterlassen".

Die von Wagner getöteten Menschen an Bord dieser Flugzeuge hatten Familien. "Ein Junge an Bord der Ka-52 hatte eine kleine Tochter", berichtet ein pro-russischer russischer Milblogger mit "Z" in seinem Spitznamen. Ich frage mich, was er von den pro-russischen englischen Idioten hält, die diesen Putsch als "relativ unblutig" bezeichnen?

Die russischen Russen fühlen sich nicht "geeint wie eh und je". Das ist die zweite Sache. "Die Kolonne der Wagneristen bewegte sich nicht auf dem Asphalt, sondern in den Herzen der Menschen und spaltete die Gesellschaft in zwei Teile", behauptet Alexandr Chodakowski.

"Unser Land wird nie mehr dasselbe sein", behauptet Alexandr Chodakowski, und er meint es nicht gut - aus seinen Telegramm-Kanal

Sie fühlen sich auch nicht "stärker". Sie sahen eine brennende Raffinerie in Woronesch, sie sahen seltsame "Panzerabwehr"-Gräben und Sperren, die in Panik auf der Autobahn M4 errichtet wurden.

Sie fragen sich: Wie ist das überhaupt möglich, dass eine feindliche Kolonne einen ganzen Tag lang ungehindert auf Moskau zurasen kann? Warum hat Putin harte Strafen für die Rebellen versprochen - und ohne Erklärung einen Rückzieher gemacht? Der Konsens im russischen Russian Telegram ist, dass der Putsch Putin und Russland nicht stärker, sondern schwächer aussehen lässt.

Chodakowski fährt fort und sagt: "Dies ist der vierte Putsch in meinem Leben. Jeder von ihnen begann unter einem wohlwollenden Vorwand, aber jeder machte die Dinge noch schlimmer (...) Millionen von Menschen erlebten den schrecklichen Gedanken, dass alles, wofür sie standen, an einem Tag ausgelöscht werden könnte. Diese Millionen werden den Tätern niemals in die Augen sehen können, ohne sie für den Verlust unseres Hubschraubers zu verurteilen, der von unseren eigenen Leuten von gestern abgeschossen wurde."

Vier Putsche in einem Leben, das ist ein Haufen! Aber in Russland nennt man das "Freitag".

Viele Menschen im Westen können das alles einfach nicht glauben. Was wollte Prigoschin damit erreichen? Das ist zu irrsinnig, zu schlecht geplant und ausgeführt. Hier muss es eine versteckte Absicht geben! Offensichtlich ist das alles nur eine Show!

Aus dem Telegram-Kanal “Wojenkor Kotenok Z

"Offensichtlich ist es keine Show" - antwortet ihnen ein anderer pro-russischer Russe, Wojenkor Kotenok Z - "das Flugzeug ist verloren gegangen, die Piloten sind gestorben". In seiner Tirade beschuldigt er die Behörden der groben Nachlässigkeit. Er sagt, nicht der Putsch sei schlecht vorbereitet gewesen, sondern die Präventivmaßnahmen seien wirklich lächerlich.

"12 Säcke mit Sand und ein Maschinengewehr? Das ist lächerlich, der Panzer würde nicht einmal abgelenkt, er würde einfach weiterfahren", sagt er und stellt die 100-Millionen-Rubel-Frage: "Was ist, wenn der Feind morgen dasselbe tut, aus den Wäldern des Gebiets Sumy unter Umgehung von Kaluga eindringt und in Richtung Moskau reitet?".

Ein Meme, das in den polnischen sozialen Medien während der Johannisnacht kursiert (oder, wie wir gerne sagen, "die Nacht der Kupała, der alten slawischen Gottheit aller guten Dinge im Leben")

In den polnischen sozialen Medien gab es ein Meme, in dem Prigoschin extrem verkatert aussah (wie er es normalerweise tut) und sagte: "Ich hatte einen zu viel, kann mich an nichts erinnern, ich hoffe, ich habe nichts allzu Dummes getan...".

Wenn man sich die Geschichte der Putsche ansieht, sehen sie meist so aus. Diese Frage stellt man bei gescheiterten Putschen. Bei erfolgreichen Putschen stellt man sie (normalerweise) nicht, aber ich denke, sie sind ähnlich. Die letzteren haben einfach Glück gehabt.

Der "Bierhallenputsch" eines Adolf Hitler von 1923 endete ebenfalls in der Lächerlichkeit. Aber wer hat 10 Jahre später zuletzt gelacht?

Die wichtigste Zutat für jeden Putsch ist jemand, der bereit ist, in Anlehnung an Cesare Borgia zu sagen: "aut Caesar, aut nihil". Entweder du gewinnst und wirst zum Tyrannen oder du gehst unter. Man setzt alles aufs Spiel und lässt die Würfel rollen. Entweder sie haben Glück, wie der ursprüngliche Cäsar - oder sie haben kein Glück und enden als Fußnote.

Diese Haltung ist die Essenz der russischen Seele, wie niemand anderes als Fjodor Michailowitsch Dostojewski selbst behauptet. In seinem Roman "Der Spieler", in dem er sich mit seiner eigenen Spielsucht auseinandersetzt, vergleicht er die Russen häufig mit Franzosen, Deutschen und Polen (nach Dostojewski die verachtenswertesten aller Nationen).

Der Roman ist in der ersten Person geschrieben (und wie wir aus der Geschichte wissen, wurde er in Eile geschrieben), so dass es unmöglich ist, die Meinung des Autors von der seines Alter Ego Alexej Iwanowitsch zu unterscheiden.

In einer Szene behauptet Alexej, dass "das Roulett geradezu für die Russen erfunden ist" - denn was er am meisten verachtet, ist "die deutsche Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzubringen". Alexej will nur eines: entweder einen großen Gewinn beim Roulette oder alles verlieren und sich umbringen. Welches dieser Ergebnisse es sein wird, ist unerheblich, solange es sich nicht um ein langweiliges bürgerliches Dasein als "Hausvater" der Familie handelt, "der furchtbar tugendhaft und außerordentlich redlich ist, schon so redlich, daß man sich fürchten muß, ihm näherzutreten" (cmos: zitiert nach einer deutschen Übersetzung, den Übersetzer könnte ich aber nicht feststellen).

Dieses Plakat von "Los Hermanos Karamazov" versucht eindeutig zu vermitteln, dass es sich um eine Geschichte über etwas anderes handelt, als es tatsächlich der Fall ist. Aber ich liebe es trotzdem. Und seien wir mal ehrlich: Juli Borissowitsch Briner wäre ein großartiger Prigoschin, wenn das alles als Hollywood-Film umgesetzt würde.

Prigoschin ist eine Figur, die direkt aus Dostojewskis Roman stammt. Das ist kein Kompliment. Wie Dmitri Karamasow hat er keine Angst vor dem Töten, er hat keine Angst vor dem Sterben, das einzige, was er fürchtet, ist ein langweiliges, bürgerliches Leben. Wie Stawrogin hat er keine Moral, die ihn aufhält.

Auch wenn der Westen natürlich seinen Anteil an Putschen und Staatsstreichen hat, stellen sie ein besonders wichtiges Element der russischen politischen Kultur dar. In der russischen Sprache gibt es zwar Ausdrücke für "Staatsstreich", "Bürgerkrieg" und "Meuterei" (bzw.: pereworot, graschdanskaja wojna, matiesch), aber es gibt auch einen Oberbegriff, der all das und noch mehr umfasst: smuta. Dieses Wort wurde auch im russischen Telegramm vom letzten Wochenende häufig verwendet.

Wladimir Solowjew ist (wie immer) deprimiert darüber, was dieser gescheiterte Putsch über die Fähigkeit Russlands aussagt, Angriffe auf Moskau abzuwehren. Er ist nicht regierungsfeindlich, ganz im Gegenteil. Aber selbst die eifrigsten Kreml-Propagandisten sind nicht in der Lage, daraus etwas Gutes zu machen. Aus dem Youtube-Kanal "Russian Media Monitor".

Wenn man sich das Bild von Stalin, Putin oder Peter dem Großen ansieht, hat man den Eindruck, dass die Macht stabil ist. Das ist eigentlich falsch, aber der unglückliche Künstler würde es nicht überleben, ein genaueres Bild zu malen.

Peter der Große (1672-1725) wird gewöhnlich als Vater des modernen Russlands angesehen. Akzeptieren wir dies, um der Diskussion willen, und beachten wir eine interessante Tatsache.

Wie alle Tyrannen ließ Peter der Große die Frage der Nachfolge offen und gab vielen Anwärtern vage Versprechen. Das ist eigentlich ganz typisch: Praktisch jeder Logan Roy aus jeder historischen Epoche hat das gleiche getan.

Dies führte natürlich zu einer Reihe von Verschwörungen und Intrigen, die zum Tod seines Sohnes und zu einer kurzen Herrschaft von Katharina I. (nicht zu verwechseln mit Katharina der Großen) führten.

Sie war eine Bürgerliche polnischer Herkunft (Marta Helena Skowronska), sie überlistete alle ihre Rivalen, aber ihre Herrschaft wurde als Gräuel angesehen. Ihre Nachfolger wurden jedoch immer verrückter, bis hin zum Baby-Zar Iwan VI., der im Alter von 2 Monaten gekrönt, bald darauf von seiner Nichte gestürzt und dann 20 Jahre lang in Einzelhaft gehalten wurde, um dann als Nebeneffekt eines gescheiterten Staatsstreichs ermordet zu werden, von dem er nicht einmal wusste - was für ein Leben!

Es genügt zu sagen, dass es im 18. Jahrhundert ein Kontaktsport war, ein russischer Zar zu sein. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass man von seiner Frau, Mutter oder Tante ermordet wurde - Frauen gingen häufig als Siegerinnen aus den Intrigen im Palast hervor, so dass wir in dieser Zeit eine Reihe sehr interessanter Frauen an der Spitze hatten.

Das alles änderte sich mit Kaiser Paul, der eine strenge patrilineare Erbfolge einführte (um Kendall Roy zu zitieren: "Ich bin der älteste Junge!"). Er hasste seine Mutter (und er hatte wirklich gute Gründe, die weit über das übliche Freud-Ding hinausgingen), aber kurz nachdem er dieses Gesetz verkündet hatte, wurde er von seinem Bruder ermordet. Was hat er sich dabei gedacht?

Natürlich starben einige Zaren eines natürlichen Todes - es ist unmöglich, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, denn in ihren späteren Tagen, als sie älter und schwächer wurden, isolierten sie sich in der Regel und waren nur von ihrem engsten Gefolge umgeben. Da wir ansonsten wissen, dass die erfolgreichsten Putsche genau die sind, die von der vertrauenswürdigsten Entourage durchgeführt werden ("et tu, Brute"?), werden wir die genaue Zahl wohl nie erfahren. In einigen Fällen gibt es im Grunde nur eine Person, die sagte, dass "seine Majestät friedlich im Schlaf gestorben ist" (während sie verzweifelt versuchte, ein Messer abzuwischen).

This man just gotta go, declared his enemies. But the ladies said: don’t you try to do it, please. No doubt this Rasputin had lot of hidden charms - though he was a brute, they just fell into his arms. Then one night some men of higher standing set a trap (they’re not to blame!). Come to visit us, they kept demanding. And he really came… wenn es einen echten Russlandversteher in Deutschland gab, dann war es Frank Farian von Boney M. Via Youtube.

Nochmals: Auch in den westlichen Monarchien kam es häufig zu Erbschaftsstreitigkeiten. Aber ich glaube nicht, dass es in Westminster nach 1688 jemals dazu gekommen ist. Hat es das? Ich bin mir nicht sicher, die Frage ist echt.

Im Allgemeinen konnte man in der Neuzeit im Westen - und man tat es auch! - eine Revolution durchführen, um die Monarchie zu stürzen. Aber eine Palastintrige, bei der eine Nichte ihren Cousin ermordet, um dessen Krone zu stehlen? Da fällt mir wirklich kein Beispiel ein. Außer natürlich in Russland, denn dort wurden Palastputsche genau zur gleichen Zeit, nämlich zur Zeit Peters des Großen, zur Spezialität des Hauses.

Nur die erfolgreichsten russischen Putsche haben es in das westliche Allgemeinwissen geschafft. Jeder weiß über die bolschewistische Revolution Bescheid, aber nicht so viele über den Pugo-Putsch oder die Machnowststchina. Es gibt einen Grund, warum man einen Oberbegriff für alle Arten von meuterndem Verhalten braucht, denn einige davon sind wirklich schwer zu klassifizieren.

Ich bin nicht so verrückt, die nächste Smuta in Russland vorherzusagen, aber Putin wirkte nach dem Prigoschin-Putsch schwach. Am Morgen verkündete er harte Strafen und am Abend eine vollständige Amnestie.

So etwas macht man nicht, das ist ein Grundprinzip von Macchiavelli. Sei hart, wenn du musst, sei nachsichtig, wenn du musst, aber nicht gegenüber derselben Person am selben Tag. Du musst dich wirklich entscheiden, bevor du an die Öffentlichkeit gehst.

Ein Auszug aus: Aleksandr Gamow, "Wlasti ne budut presledowat' wagnerowtsew", Komsomolskaya Pravda, 24.6.2023

Und dies ist öffentlich genug, um in den offiziellen russischen Medien erwähnt zu werden. Die "Komsomolskaja Prawda" (mit dem Spitznamen "Putins Zeitung") stellt Peskow genau diese Frage und erhält eine vage, ausweichende Antwort. Das sieht nicht gut aus.

In Russland ist die "Diskreditierung der Streitkräfte" ein Verbrechen, das mit Gefängnis bestraft wird. Bis zum vergangenen Wochenende haben sich nur einige wenige Militärblogger mit gutem Ruf getraut, dies zu tun. Jetzt kritisieren Leute, die "Z" in ihren Spitznamen schreiben, offen Schoigu und indirekt auch Putin.

Aber das Wichtigste, was ich damit sagen will, ist, dass der Putsch von Prigoschin nichts Ungewöhnliches für Russland war. Im Gegenteil, das ist eine ganz normale Smuta. Jeder Russe mittleren Alters wie Chodakowski hat schon vier davon gesehen, also kann man ihm verzeihen, dass es ihm ein bisschen egal ist.

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Betreff:

Kategorie:Ostklärung

Kommentar

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (17) – Ballade von einem russischen Blogger.

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): 

https://eastsplaining.substack.com/p/ballad-of-a-russian-blogger

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Ballade von einem russischen Blogger.

Wo selbst die beste "Kryscha" in Moskau Sie nicht mehr schützen kann...

Vor ein paar Monaten habe ich kurz die Probleme eines russischen Militärbloggers erwähnt, dem ich folge - Roman Saponkow. Kürzlich hat er ein Update gepostet, das ich hier im Detail beschreiben werde, weil ich denke, dass es die perfekte Zusammenfassung dessen ist, worum es in diesem Krieg eigentlich geht.

Roman Saponkow ist kein gewöhnlicher Blogger, er hat direkte Quellen in der Kampfzone und besucht häufig die kämpfenden Truppen (aus Twitter-Account von TV Seznam)

Um es noch einmal zusammenzufassen: Militärblogger auf beiden Seiten des Konflikts starten Crowdfunding-Kampagnen, um "ihren" befreundeten Einheiten zu helfen, und erhalten in der Regel exklusiven Zugang zu Kampfberichten aus erster Hand. Auf unserer Seite ist dies durch die ukrainische OPSEC stark eingeschränkt, aber russische Autoren veröffentlichen oft sehr interessante Dinge direkt aus den Schützengräben (deshalb verfolge ich sie!).

In diesem speziellen Fall finanzierte Saponkow nicht nur den Kauf von Drohnen für "seine" befreundete Einheit, sondern auch deren Wartung per Crowdfunding. Ähnlich wie andere mechanische Geräte müssen auch Drohnen von Zeit zu Zeit gewartet werden.

Im März wurden Saponkows Lieferwagen mit den zu wartenden Drohnen von den örtlichen Behörden der "Oblast Cherson" beschlagnahmt. Obwohl Russland behauptet, das Gebiet annektiert zu haben, hat sich in der Praxis nichts geändert. Genau wie andere besetzte Gebiete ist dies eine staatenlose Zone, die von Kriegsherren regiert wird.

Das Ausmaß der Gesetzlosigkeit scheint selbst für einen Russen wie Saponkow überraschend zu sein. In Moskau versucht die Polizei vielleicht, Bestechungsgelder zu erpressen, aber sie stiehlt nicht jeden Tag Autos.

Saponkow versuchte, seine Autos mit Hilfe des von den Russen ernannten "Gouverneurs" der Oblast Cherson, Wladimir Saldo, und des Senators Konstantin Basyuk zurückzuholen. In Russland nennt man das "kryscha", was so viel wie "Schutz" bedeutet (Anm. cmos: wörtlich übersetzt heißt es "Dach"), und wenn man einen wirklich starken Schutz hat (z. B. wenn die "kryscha" Putins Tochter ist), kann man mit Mord davonkommen. Buchstäblich.

Deshalb gehen manche Leute ins Gefängnis, wenn sie diesen Krieg "Krieg" nennen oder "die Streitkräfte diskreditieren", und andere können ganz offen diskreditieren, wen sie wollen. Die letzteren haben gute "kryschas", die ersteren nicht. Ein "Militärblogger" braucht per Definition eine gute Kryscha, denn formal ist alles, was er tut, in Russland illegal.

Das Gericht in Krasnojarsk hat den Stadtrat Igor Grinew wegen der Verwendung der Worte "aufgegebenes Cherson" mit einer Geldstrafe von 30 000 Rubel bestraft. Das ist eine "Diskreditierung der russischen Armee", sie hat Cherson nicht aufgegeben, es war eine erfolgreiche Umgruppierung! (aus Telegramm-Kanal von Igor Girkin, der sagen kann, was er will, weil er aus Moskau kommt und eine gute "Kryscha" hat, im Gegensatz zu irgendeinem armen Schlucker in Krasnojarsk) (Anm. cmos: Inzwischen hat sich seine "Kryscha" offensichtlich aufgelöst).

Nach dem, was ich gelesen habe, scheinen die "Kryschas" aus dem Festland in den besetzten Gebieten nicht zu funktionieren. Wenn Sie sich mit einem echten (korrupten, aber echten) Polizisten streiten, hilft Ihnen vielleicht die Trumpfkarte "Ich rufe jetzt den Polizeichef an". Aber bei einer Bande von Paramilitärs, die sich als Polizisten ausgeben, wird das nicht funktionieren.

Dies war wahrscheinlich das Todesszenario eines der Anführer des "Donbass-Separatismus 2014", Igor Manguschew. Wie die meisten der "Donbass-Separatisten" wurde er natürlich in Moskau geboren.

Am 4. Februar 2023 wurde er von Paramilitärs an einem Kontrollpunkt in Luhansk angehalten. Die "Polizisten" sahen einen reichen Mann und wollten ihn ausrauben. Seinem Freund, dem Militärblogger Murz, zufolge war seine Reaktion typisch für einen gut vernetzten Moskauer: "Fasst mich nicht an, ich kenne Girkin! Ich kenne Prigozin!". Was in Moskau funktionieren mag, funktioniert im besetzten Luhansk nicht. Sie haben ihn einfach erschossen, weil er sich dem Raub widersetzt hat.

Die meisten russischen Blogger haben Manguschew vergessen. Er war eine ebenso berühmte Figur wie Tatarski, aber heute ist er eine Unperson, wie in Orwells "1984": Er hat nie existiert. Murz ist der einzige Blogger, der eine formelle Untersuchung des Todes von Manguschew fordert. Wegen dieser unangemessenen Forderungen bezeichnete Saponkow Murz als Dummkopf ("durak").

Saponkow ist kein Narr, er kannte seine Chancen. Er übergab seine Autos kampflos. Aber auch seine "Kryscha" auf Gouverneursebene hat nicht geholfen.

Nach seiner eigenen Beschreibung ist das Hauptproblem die fehlende ordnungsgemäße Anmeldung der beschlagnahmten Autos. Technisch gesehen haben die selbsternannten "Polizisten" sie nach Saldos Intervention zurückgegeben, aber er kann sie nicht fahren, weil ihnen jetzt die richtigen Nummernschilder fehlen.

Die "Oblast Cherson" kann sie nicht ausstellen, da es sich um eine Einrichtung handelt, die gleichzeitig existiert und nicht existiert. Einerseits ist es formal ein Teil Russlands (seit der Annexion). Andererseits war die Annexion nur vorgetäuscht, die Grenze ist noch da, und das russische Kfz-Zulassungssystem funktioniert in den besetzten Gebieten nicht. Es handelt sich um eine Grauzone außerhalb jedes (auch russischen) Rechtssystems.

Ein weiterer pro-russischer Kriegsbefürworter beschwerte sich darüber, dass die Besatzungsbehörden im Donbass Mavic-Drohnen des 291. Regiments, die er zur Wartung von Donezk nach Moskau transportierte, einfach gestohlen ("konfisziert") hätten. Es wurde keine Erklärung gegeben (aus dem Telegramm-Kanal von Saponkow)

Nach langen Verhandlungen zwischen Saponkow, Saldo und der "Polizei von Cherson" wurde eine Lösung gefunden. Die Lieferwagen werden "verstaatlicht", dem Eigentumskomitee der Region Kherson (was auch immer das sein mag) übergeben, und dieses Komitee wird sie für die Nutzung durch Saponkow und seine Freiwilligen leasen.

Er wollte diese Lösung nicht akzeptieren, da sie immer noch bedeutet, dass der Mietvertrag jederzeit widerrufen werden kann. Aber offenbar gab es keine andere Wahl.

Am 11. April übernahm das Eigentumskomitee formell das Eigentum an den Fahrzeugen. Am 26. Mai war der juristische Papierkram endlich fertig - das Eigentumskomitee stimmte zu, die Autos an einen "Kherson Territorial Development Fund" (was auch immer das ist) zu verleasen.

Und dann... geschah nichts. Die Lieferwagen werden in Isolationshaft gehalten. "Niemand tut etwas... Ich kenne ihre Telefonnummern nicht... Ich weiß nicht einmal, wer uns die Schlüssel und den Papierkram aushändigen soll" - schreibt Saponkow.

 

Der witzigste Teil von Saponkows Blognotiz. In Fettdruck betonte er, dass "die Situation unfassbar ist" und dass "er nicht einmal weiß, wer ihm die Schlüssel und Papiere aushändigen soll und wann dies geschehen soll" (aus dem Telegrammkanal von Saponkow)

Es scheint, dass jemand im "Eigentumsausschuss" oder bei der "Polizei von Cherson" eine andere Verwendung für diese Fahrzeuge gefunden hat. Warum also die Rückgabe an Saponkow? Saldos Autorität scheint den Warlords und Paramilitärs nicht zu genügen. Letztendlich ist er ein Aushängeschild, über das man hinwegsehen kann.

Saponkow beendet diese Geschichte mit der Erklärung: "Ich würde mich nicht beschweren, wenn es nur um mich ginge, aber die Kämpfe im Donbass nehmen zu, und unsere Jungs sind ohne unsere Drohnen und Unterstützung". Wie die strenggläubigen Kommunisten in den Jahren des Kommunismus versäumt er es, die Zusammenhänge zu erkennen und das Offensichtliche zu sehen: dass dieser halblegale Autodiebstahl keine Abweichung des russischen Systems ist, sondern das System selbst.

Sie sind nicht 2014 in den Donbass und die Krim einmarschiert und 2022 in den Rest des Landes, um das Leben der Menschen zu verbessern. Das ganze Gerede von "Entnazifizierung und Entmilitarisierung" oder "Schutz der russischsprachigen Bevölkerung" war nichts als ein Vorwand, um zu plündern und zu profitieren.

Die Besatzungsbehörden geben vor, "Gouverneure", "Bürgermeister" oder "Polizisten" zu sein, aber in Wirklichkeit sind sie da, um unter einem halblegalen Rahmen namens "Eigentumsausschuss" zu stehlen. Wenn Russland wirklich "seine eigene Sippe schützen" wollte, würde es den "Annexionen" die Integration der russischen politischen Institutionen in die Besatzungsregime folgen lassen, aber das geschieht einfach nicht.

In Osteuropa wissen wir das, weil die meisten unserer Länder in der Vergangenheit unter russischer oder sowjetischer Besatzung standen. Wir kennen die Geschichten von unseren Großeltern und aus Geschichtsbüchern. Daher ist es für uns keine Überraschung, dass die Russen wieder einmal russische Dinge tun.

Die Sprengung des Kachowka-Damms löst im Westen Unverständnis aus. "Würden sie ihren eigenen Damm sprengen und damit ihr eigenes Volk verletzen?" - diese Frage scheint westlich der Oder selbstverständlich, aber für uns ist sie zu offensichtlich, um sie zu diskutieren.

Die russische Welt basiert auf einer sehr strengen Hierarchie. Ganz oben stehen die in Moskau und Petersburg ansässigen Oligarchen - die Leute, die auf den "VIP-Spuren" fahren dürfen, um den Stau in diesen Städten zu umgehen.

Einige Schichten darunter befinden sich normale Moskauer mit guter "kryscha", wie z. B. Saponkow. Noch weiter unten gibt es Menschen, die sich legal in den "guten" Städten aufhalten dürfen, denen aber die "kryscha" fehlt und die daher nur sehr eingeschränkte Karrieremöglichkeiten haben (und sogar wegen "Diskreditierung der Streitkräfte" bestraft werden). Noch weiter unten auf der Leiter gibt es Menschen, die im tiefen Land ("glubinka") leben, aber immer noch ethnisch russisch sind. Gut für sie, denn dank dieser Tatsache sind sie noch nicht ganz unten. Unter ihnen befinden sich die versklavten Minderheiten - Burjaten, Kalmuken, Tadschiken usw.

Die Menschen in den "besetzten Gebieten" sind der eigentliche Bodensatz der "russischen Welt". Den Truppen an der Front ist ihr Leben genauso egal wie dem "Eigentumskomitee", das sich darum kümmert, dass die Truppen keine Saponkows Drohnen bekommen.

Saldo und Solowjew sind sich einig, dass die Sprengung des Staudamms eigentlich eine gute Sache für Russland war

Die russische Welt ist eine "Hund-frisst-Hund"-Welt. Die Wegwerffigur Saldo kümmert sich nicht um die humanitäre Katastrophe in seiner Region - er ist froh über die Überschwemmungen, weil sie die ukrainische Offensive behindern, so dass er noch ein bisschen länger der Scheingouverneur sein wird. Kirill Stremousow, der ebenso entbehrliche "Bürgermeister" des russisch besetzten Cherson, wurde an dem Tag getötet, als die Russen die Stadt verließen - er wurde nicht mehr gebraucht, um den Raub zu "legalisieren". Saldo sollte ein ähnliches Schicksal erwarten, sobald die Russen die Region verlassen haben.

Bin ich ein Russophobe? Vielleicht, aber nur, weil ich ein Russophoner bin. Ich verstehe ihre Sprache und ich lese sie. Und das ist das Bild der russischen Welt, das ich durch die Lektüre von Saponkow, Romanow, Girkin, Pegow, Kaschewarowa usw. bekomme.

Und es ist nicht so, dass sie gegen den Krieg sind. Sie sind so sehr für den Krieg und für Putin, dass sie per Crowdfunding Nachschub für die Armee finanzieren. Und sie werden von den Leuten ausgeraubt, die ebenfalls für den Krieg und für Putin sind, aber aus etwas praktischeren Gründen.

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Betreff:

Kategorie:Ostklärung

Kommentar

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (16) – Los geht’s, Genosse Schachgroßmeister

Oder wie ich lernte, mir keine Sorgen mehr über Putins Bombe zu machen

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/bring-it-on-comrade-chess-grandmaster

Ich bin leider spät dran, der Originalbeitrag wurde am 28.05.2023 veröffentlicht.

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Los geht's, Genosse Schachgroßmeister

Pro-russischer Edgelord besorgt über die mysteriöse "Eskalation" (aus Ilia Ponomarenko twitter) Übersetzung: "Also du muss über die Aussage von Kreml wissen, dass wenn es etwas in der Art eines terroristischen Angriff geben wird, die werden die Handschuhen ausziehen und das nicht für das Fernsehen.". Antwort: "Heiliger Strohsack, werden sie uns jetzt überfallen, oder was?"

Eine der beliebtesten Figuren in der russischen Populärkultur ist Ostap Bender, ein außergewöhnlicher Betrüger, geschaffen von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow. Er findet immer eine einfache Möglichkeit, Geld zu verdienen, schafft es aber irgendwie nie, es zu behalten.

In einer Szene stellt er sich einer Gruppe naiver Amateurspieler aus einer Kleinstadt als Schachgroßmeister vor - und lädt sie zu einem Simultanturnier ein (gegen eine geringe Gebühr). Natürlich kennt er kaum die grundlegenden Regeln, und so beginnt er sehr schnell, alle Simultanpartien zu verlieren.

Als Betrüger behält er ein ernstes Gesicht, während er Bauern und Figuren verliert. Die einheimischen Spieler halten dem Druck nicht stand. Sie vermuten, dass der Großmeister sie in eine furchtbare Falle lockt, und geben lieber sofort auf, als das Spiel eskalieren zu lassen.

Doch dann kommt der unvermeidliche Moment. "Schach und Matt... Ich habe Ihnen Schach und Matt gegeben, Genosse Großmeister!" - flüstert ein Spieler verblüfft. Ostap Bender erkennt, dass dies der Moment ist, das Geld zu nehmen und zu fliehen - und macht sich auf den Weg!

Andrey Mironov als „die Kanone“ Ostap Bender im russischen Kino (1976)

Ich muss an diese Szene denken, wenn ich lese, dass westliche Analysten sich Sorgen über die „Eskalation“ des Krieges in der Ukraine machen. Oder von der Phantomarmee Russlands aus 700.000 Soldaten träumen, die auf den Kampf warten („sie haben noch nicht angefangen“!). Oder die Warnung, dass die jüngste Entwicklung für Russland ein „Handschuh-Ausziehen“-Moment sein wird und dass es „zurückschlagen“ wird.

In den ersten Tagen der Invasion verlor Russland seine Elite-Fallschirmjägereinheiten während des gescheiterten Versuchs, Kiew einzunehmen; es verlor seine Elite-Speznaseneinheit während des gescheiterten Versuchs, Charkiw einzunehmen; Sie verloren ihren einzigen Schwarzmeerkreuzer bei dem gescheiterten Versuch, die Seeherrschaft zu errichten. Sie haben ihre bestausgebildeten Piloten während des gescheiterten Versuchs, die Luftüberlegenheit zu errichten, verloren – und doch glauben einige Leute im Westen, dass dies alles nach einem „Masterplan“ verläuft, der brillanten 5D-Schachstrategie des Genossen Großmeister Putin.

Solowjew und sein Gast waren besorgt, dass wir keine Angst vor ihrer Erpressung haben. „Verstehen Amerikaner, dass es in einem Nuklearkrieg enden könnte? Lesen sie überhaupt Dmitri Medwedew“? Das tun wir, Genosse. Für die Lacher (aus TheKremlinYap)

Ich betone "einige Leute im Westen", weil dies in Russland nicht mehr der Fall ist. Ich sehe mir russische Fernsehsendungen an, die von Solowiow, Skabejewa, Mardan und Norkin moderiert werden. Ich lese russische Telegram-Kanäle. Ja, offiziell behaupten sie immer noch, an den Sieg zu glauben, aber sie glauben nicht mehr an irgendetwas von dem oben genannten. Sie wiederholen immer wieder: "Wir müssen gewinnen", aber sie wissen nicht wie, und sie fragen sich gegenseitig nach Ideen.

Die jüngsten Angriffe der russischen Separatisten in der Volksrepublik Belgorod lösten in den russischen Medien echte Panik aus. "Was können wir tun, um das zu verhindern?" - fragten sie ihre üblichen Experten (pensionierte oder aktive Militärkommandeure).

"Nichts, wirklich" - antwortete Alexander Chodakowski, Kommandeur des in der Nähe von Wuhledar stationierten Wostok-Bataillons (im Januar sollten sie Wuhledar innerhalb von 24 Stunden einnehmen - zumindest nach Ansicht der pro-russischen westlichen "Analysten"). "Die einzige praktikable Lösung besteht darin, eine durchgehende Frontlinie zu bilden, und dafür haben wir nicht genügend Ressourcen".

"Was können wir also tun, um die Menschen, die in der Nähe der Grenze leben, zu beruhigen?" - fragte Skabajewa erstaunt. "Meine Absicht ist es nicht, etwas Beruhigendes zu sagen, sondern das Problem zu umreißen", antwortete er. Einige Experten schlugen vor, "territoriale Verteidigungseinheiten" zu bilden - die Tatsache, dass Russland sie nie hatte, ist ein Beweis dafür, dass es sich nie wirklich von der NATO oder der Ukraine "bedroht" gefühlt hat - aber selbst dafür gibt es nicht genug Ressourcen.

Der Gesichtsausdruck von Skabajewa ist tausend Rubel wert! (oder, wie wir in Europa sagen, zehn Euro) - via TheKremlinYap

Falls jemand, der noch an die russische Macht glaubt, dies liest: Ich bitte dich, mir diese Frage zu beantworten. Wenn sie nicht genug Personal, Waffen und Munition haben, um ihre eigene Grenze zu schützen - wie können sie dann noch eine "versteckte Armee" haben, die in der Lage ist, Cherson zurückzuerobern, geschweige denn Odessa und Kiew einzunehmen?

Wenn du Angst vor einer "Eskalation" hast, was meinst du dann in Wirklichkeit? Dass Russland wieder in die Ukraine einmarschieren wird? Noch mehr einmarschiert?

Wenn du glaubst, dass Russland die "Handschuhe ausziehen" wird (oder es bereits getan hat, wie offenbar jemand in diesem geistesgestörten Tweet behauptet), was bedeutet das genau? Dass sie etwas noch Grausameres tun werden als bisher?

Das letzte Mal, als russische Propagandisten (ich meine: Russisch-russisch, nicht "amerikanisch cosplaying russisch", Donbas-Devushka-Stil) irgendeine Hoffnung hatten, war letzten Herbst. Sie hofften, die ukrainische "kritische Infrastruktur" zu zerstören, so dass die Ukrainer in der Dunkelheit frieren und verhungern, die Züge nicht mehr fahren, so dass die Armee keinen Nachschub bekommt, und als Ergebnis werden sie Selenskyj zur Kapitulation zwingen oder ihn stürzen.

September 2022: Margarita Simonjan setzt große Hoffnungen in die "Zerstörung der kritischen Infrastruktur". Sie muss diese Erinnerungen in Ehren halten! (aus nitter.net)

Dies ist nie geschehen. Ja, die russischen Raketen- und Drohnenangriffe im Herbst und Winter haben viel Schaden und Leid verursacht, aber sie haben sich nie der Zerstörung kritischer Infrastruktur angenähert. Die Ukraine hat die Schäden in Echtzeit behoben und war schnell wieder in der Lage, Energie zu exportieren. Es gab zwar einige Stromausfälle, aber in einer russischen Stadt in Glubinka gibt es auch ohne Krieg Stromausfälle - in Tscheljabinsk nennt man das "Dienstag".

Jetzt ist das Thema "Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur" so gut wie vergessen. Als hätte es nie einen solchen Versuch gegeben, so wie es auch keinen Versuch gab, Kiew einzunehmen.

Einige Leute phantasierten jedoch, dass nach dem ukrainischen Schlag gegen den Kreml - symbolisch, aber spektakulär - "die rote Linie überschritten" wurde, so dass Russland mit der Zerstörung der "Entscheidungszentren" und der Ermordung von Selenskyj reagieren würde. Eine Zeit lang war die russische Propaganda voll von Kommentaren wie in dem unten stehenden Tweet: dass Selenskyj feige durch die Welt reist und Angst hat, nach Kiew zurückzukehren, weil ein russischer Vergeltungsschlag bevorsteht, während Putin sich tapfer in seinem Bunker versteckt.

Offenbar wird Russland nicht "die Handschuhe ausziehen", weil es dies bereits "nach dem Drohnenangriff auf den Kreml" getan hat. Es besteht also kein Grund zur Sorge über eine Eskalation. Was werden sie tun, die Handschuhe noch ein bisschen mehr ausziehen? (aus Nitter.net)

Wie kann man noch glauben, dass Russland in der Lage ist, "kritische Infrastruktur", "Entscheidungszentren" oder "Brücken über den Dnipro" zu zerstören ("Warum stehen die Brücken über den Dnipro noch?" ist eine Frage, die auch unter Russland-Russen häufig gestellt wird, aber sie finden keine bessere Antwort als "nach 15 Monaten haben wir immer noch nicht angefangen")?

Meine Antwort ist: Russische Raketen und iranische Drohnen sind dafür nicht geeignet. Das Beste, was sie tun können, ist, wahllos Zivilisten zu töten - wenn man 50 Drohnen auf eine 2-Millionen-Stadt abschießt, werden die meisten von ihnen in der Luft abgeschossen, aber zwei oder drei werden in einem bewohnten Gebiet explodieren und vermutlich eine ältere Frau und ihren Hund töten, mit dem sie spazieren ging. Das ist ein Kriegsverbrechen, aber es ändert nichts am Verlauf des Krieges.

Um eine Brücke, einen Tunnel, ein "Entscheidungszentrum" (usw.) zu zerstören, braucht man Präzisionswaffen. Die russische Militärtechnik ist dafür nicht geeignet.

Die Ukrainer, mit denen ich in Kontakt stehe, haben keine Angst mehr vor einer "Eskalation". Wenn sie hören, dass die Russen von "Vergeltung für das Überschreiten roter Linien" sprechen, reagieren sie mit "Los geht's". Sie haben das Gefühl, dass es für sie gar nicht mehr schlimmer werden kann.

Wenn wir im Westen von "Eskalation" sprechen, bedeutet das in der Regel, dass wir Angst vor russischen Atomwaffen haben. Lassen Sie mich Ihnen erklären, warum ich keine Angst habe, auch wenn russische Propagandisten häufig davon sprechen, auch mein Land mit Atomwaffen zu vernichten.

Würde Lawrow seine eigene Stieftochter mit Atomwaffen bombardieren? (aus AP und Instagram von Polina Kovaleva)

Erstens - um Sting zu zitieren: "Ich hoffe, die Russen lieben ihre Kinder". Die russische Führung hat ihren Geliebten und ihren (Stief-)Kindern das beste Geschenk für jeden Russen gemacht - Wohnungen in London, italienische Villen, Penthäuser in Manhattan, Yachten im Mittelmeer, Stipendien für amerikanische Universitäten usw.

Die goldenen Kinder des Kremls, die Geliebten und Kinder von Putin, Peskow, Lawrow, Solowjew (usw.) leben im Westen. Unter Umgehung der Sanktionen tun sie das immer noch. Russland wird London oder New York NICHT bombardieren, solange sich dort russische Eliten aufhalten.

Dies ist eine relativ neue Situation. Während des Zweiten Weltkriegs haben die Kinder von Göring oder Himmler nicht in Harvard studiert oder bei Harrods eingekauft. Während des Kalten Krieges prahlten die Mätressen von Stalin oder Breschnew nicht in Fotostrecken mit ihrem Urlaub an der Cote d'Azur. Die russischen Eliten haben sich - zu ihrem eigenen Schaden - zu sehr in die Welt des westlichen Luxus integriert. Sie können einfach nicht ohne ihre Guccis leben, nicht wahr?

Selbst wenn Putin eines Tages beschließt, die Sprengköpfe aufzurüsten, werden die Kreml-Eliten ihren Geliebten den Tipp geben, dass es im Westen nicht mehr sicher ist. Die erste Warnung wird ein plötzlicher Ansturm stark botoxbehandelter Frauen mit grotesk aufgeblähten Lippen sein, die ihre Louis Vuittons durch den Flughafen tragen und verzweifelt versuchen, in den gemütlichen Bunker ihres Sugar Daddys im Ural zu gelangen.

Solange wir das nicht sehen, weigere ich mich, die russische nukleare Erpressung als etwas anderes als leeres Geplapper zu betrachten. Sie werden ihre eigenen Leute nicht atomar vernichten.

Aber selbst wenn wir plötzlich feststellen sollten, dass es im Westen keine russischen Eliten mehr gibt, glaube ich immer noch nicht an eine russische Atombedrohung. Hier ist meine Argumentation.

Erstens: Der Westen hat ziemlich deutlich gemacht, dass wir nicht einmal einen "taktischen Schlag" zulassen werden. Eine Atombombe auf ein ukrainisches Ziel löst die volle Reaktion der NATO aus.

Wie gezeigt, ist Russland nicht in der Lage, seine eigenen Grenzen zu verteidigen. Im Falle eines offenen, groß angelegten Konflikts zwischen Russland und der NATO würden die NATO-Armeen ohne großen Widerstand auf das russische Festland vordringen. Statt "Kiew in 3 Tagen" werden wir "Königsberg in 3 Stunden" haben.

Aufgrund von Konstruktionsfehlern, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen, sind russische Flugzeuge nicht in der Lage, westliche Flugzeuge anzugreifen. Das letzte Mal, dass es einen gleichwertigen Luftkrieg gab, war in den 1960er Jahren, dem Jahrzehnt des Vietnamkriegs, der Psychodelia, der Beatlemania und der Mig-17.

Seitdem gab es einige Luftkämpfe zwischen westlichen und sowjetischen Flugzeugen (vor allem im Nahen Osten) und buchstäblich keinen einzigen Fall, in dem sowjetische Flugzeuge oder sowjetische Flakbatterien einen Erfolg erzielten. Auf dem Papier können die Mig-29 oder die Su-27 bessere Parameter haben als ihre westlichen Gegenstücke, aber in der Realität zählt nur die Flugzeugelektronik.

Die sowjetischen Konstrukteure fetischisierten den Nahkampf, während der Westen auf den Fernkampf setzte. Daher würde ein hypothetischer Kampf F-16 gegen Su-27 wie die Szene aus "Jäger des verlorenen Schatzes" aussehen, in der Indiana Jones auf einen erfahrenen Schwertkämpfer trifft. Alle seine Fähigkeiten sind nutzlos, wenn Indy einfach seine Waffe abfeuert.

Duell Mig-29 gegen F-16 - aus "Raiders of the Lost Ark"

Wenn Sie mir hier nicht zustimmen, höre ich mir gerne Ihre Widerlegung an. Ich gehe davon aus, dass die NATO in einem "umfassenden Krieg zwischen der NATO und Russland" gleich am ersten Tag die absolute Luftüberlegenheit über dem russischen Festland erlangen und die meisten russischen Flugzeuge zerstören wird, bevor sie überhaupt in der Luft sind. Und dann - jedes beliebige Ziel nach Belieben bombardieren, so wie es in allen früheren "NATO-irgendwas"-Konflikten geschehen ist.

"Russische Atomwaffen" werden durch konventionelle Waffen vernichtet, bevor sie scharf gemacht, geschweige denn gestartet werden können. Russische U-Boote werden von NATO-Satelliten in Echtzeit verfolgt, und ich glaube nicht, dass sie eine hohe Überlebensrate haben werden. Ich gehe sogar davon aus, dass die Überlebensrate nach der ersten Stunde eines "Krieges in vollem Umfang" bei 0 % liegt.

Natürlich ist dies nur eine Sesselanalyse (obwohl ich mich hier auf das beziehe, was ich anderswo gelesen habe). Wenn jemand sagt: "Es ist besser, das Risiko zu vermeiden", stimme ich ihm zu.

Sich einer Erpressung zu beugen, ist jedoch keine gute langfristige Strategie, um das Risiko zu vermeiden. Im Grunde genommen garantiert man sich selbst, dass diese Erpressung in naher Zukunft wieder stattfinden wird - in der Regel wird die nächste Version noch schlimmer sein.

Wenn sich der Westen jetzt der Erpressung "Gebt uns die Ukraine oder wir bombardieren euch" beugt, werden wir bald hören "Gebt uns Finnland oder wir bombardieren euch", "Gebt uns Taiwan oder wir bombardieren euch" usw.

Wo wird es aufhören? "Gebt uns Alaska oder wir bombardieren euch?". Jedes Mal, wenn man auf die Forderungen des Erpressers eingeht, wird es schwieriger, einen anderen Erpresser abzuschütteln. Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, wenn Sie sagen: "Vermeiden wir das Risiko", aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Kapitulation vor Erpressung das Risiko auf lange Sicht sogar noch erhöht.

Die Menschen in Kiew haben keine Angst vor einer "Eskalation" durch Putin. Die Menschen in Warschau haben keine Angst vor Putins "Eskalation". Warum leben die Menschen, die sich darüber Sorgen machen, meist in New York oder London, in unmittelbarer Nähe von Polina Oligarchowa und Iwan Kleptokratow?

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Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (15) – Rassismus in Russland

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/racism-in-russia

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Rassismus in Russland

Sie hassen ihre "Schwarzen" mehr als sie Ukrainer hassen

Wie du vielleicht bemerkt hast, lese ich viele russische Quellen, denn selbst wenn ich deren Standpunkt ablehne, möchte ich ihn verstehen. Das ist wohl das genaue Gegenteil von dem, was Noam Chomsky tut.

Es gibt ein Thema, das von russischen Bloggern sehr lebhaft diskutiert wird und im Westen kaum Beachtung findet. Bevor ich es näher beschreibe, eine kurze Einführung und etwas Kontext.

Russland wird manchmal als ein Land ohne Sklaverei und ohne Rassismus wahrgenommen. Für diesen Irrtum gibt es zwei Gründe.

Erstens: Rassismus wird im Westen weithin als etwas angesehen, für das man sich schämen muss. Selbst der Typ mit der Flagge der Konföderierten auf seinem Autoaufkleber wird etwas sagen wie "Rassist? ICH? Wie kannst du es wagen, mir Rassismus vorzuwerfen?".

Gleichzeitig wird der russische Rassist das einfach so hinnehmen. "Natürlich bin ich rassistisch, und du solltest es auch sein".

Takier Karlsonow demonstriert seine unfassbare Unfähigkeit, sich selbst im Spiegel zu betrachten - aus Fox News

Zweitens: Russland hatte nie Kolonien in Afrika, so dass die afro-russische Minderheit zahlenmäßig gering ist. Dennoch gibt es sie, und deren Verfolgung ist erstaunlich ähnlich. In der Sowjetunion gab es Lynchmorde mit dem typischen KKK-Szenario: Die örtlichen Schläger wollten nicht, dass afrikanische Studenten mit weißen Mädchen ausgehen, also mussten sie ihm "eine Lektion erteilen".

Sklaverei hat es in Russland jedoch schon immer gegeben, und sie existiert bis heute, obwohl sie auf der rassistischen Ausbeutung anderer Ethnien beruhte (und noch immer beruht). Russland hat nicht massenhaft Sklaven aus Afrika importiert, nur weil es sie aus Asien holt. Das tut es immer noch.

Noch heute sind es die Sklaven, die Befestigungsanlagen errichten, um die ukrainische Gegenoffensive zu stoppen. Die Sklaven sind meist tadschikischer Abstammung, und sobald sie in die von Russland besetzten Gebieten ausgeliefert werden, gibt es für sie kein Entrinnen mehr.

Die "Annexionen" vom September fanden nur auf dem Papier statt. Sie können die russisch-ukrainische Grenze im Donbas oder auf der Krim nicht ohne Passkontrolle passieren.

Wenn dein Arbeitgeber dir den Pass abgenommen hat oder du gar keinen Pass hast, weil du ein "Illegaler" bist, dann bist du der Gnade deines Arbeitgebers ausgeliefert. In der Gesetzlosigkeit der "neuen Gebiete" kann er dich buchstäblich umbringen und ungeschoren davonkommen.

"Azamat, Migrant aus Kirgistan" bittet um Hilfe - er wurde von seinem Arbeitgeber nach Luhansk zwangsumgesiedelt. "Die Gesetze der Russischen Föderation funktionieren dort nicht", heißt es in der Überschrift (es ist ein Zitat aus dem Videointerview mit Azamat). Aus Radio Ozodi.

Nach dem, was ich in den russischen Blogs sehe, ist die tadschikische Minderheit die am meisten gehasste. Schon lange vor diesem Krieg bildeten russische Neonazi-Skinheads Selbstjustizbanden, um "die Tadschiken in Schach zu halten" (so wie es jeder Ku-Klux-Klan-Mitglied ausgedrückt hätte).

Auch wenn Tadschiken keine Afrikaner sind (sie sind persischer Herkunft), ist die Sprache des russischen Rassismus der der westlichen Rechtsextremen erstaunlich ähnlich. Sie bezeichnen ihre Minderheiten sogar als "schwarz" - oder, genauer gesagt, als "schwarzärschig" ("chernozhopy").

Kürzlich kam es in Tscheljabinsk zu Zusammenstößen zwischen russischen Skinheads und tadschikischen Selbstverteidigungs-Jugendbanden. Das örtliche Gericht entschied, dass die Schuld allein bei den Russen liege.

Ein Westler könnte dies als einen Punkt des Stolzes für Russland interpretieren: "Es gibt noch Richter in Tscheljabinsk!". Aber die russischen Blogger, denen ich folge, wie z. B. ein gewisser Andrej Medwedew, deuten dies als "Leute, wir verlieren die Kontrolle über Tscheljabinsk!".

Andrej Medwedew verteidigt die "Skinheads" von Tscheljabinsk. Kannst du dieses Wort auf Kyrillisch lesen? Es heißt eigentlich "skinhedow". Klingt wie ein falscher russischer Name, ist aber Akkusativ Plural. Aufgrund der Deklination kann man in den slawischen Sprachen ein "Skinhead" sein, aber wenn man ihn verhaftet, verhaftet man "skinheada", wenn es mehr von ihnen gibt, verhaftet man "skinheadow", man erhebt Anklage gegen Dativ "skinheadowi" (oder Plural: "skinheadom").

Wenn man russische Blogger liest, könnte man meinen, sie hätten mehr Angst vor Tadschiken als vor Ukrainern. Der Krieg hat auf paradoxe Weise dazu beigetragen.

Die Mobilisierung verursachte einen massiven Mangel an Arbeitskräften in der Wirtschaft. Arbeitsfähige Männer starben entweder im Krieg oder flohen aus dem Land.

Dies zwang Russland, das Verfahren zur Erlangung russischer Pässe zu vereinfachen. Doch wer profitierte am meisten davon? Tadschikische Illegale!

Die drei wichtigsten Herkunftsländer für neue russische Staatsbürgerschaften sind Tadschikistan, die Ukraine und Armenien - behauptet Milbloger Michman Ptichkin

"Michman Ptichkin", ein weiterer Milblogger, verkündet die alarmierende Nachricht: "70 Prozent der neuen Staatsbürgerschaften im ersten Quartal 2023 gingen an Nicht-Slawen!".

Zur Erleichterung der russischen Blogger gingen die Bundesbehörden auf einem Marktplatz in Tscheljabinsk gegen tadschikische Händler vor und verhafteten viele von ihnen. Nochmals: Es wird nicht einmal angedeutet, dass diese Händler sich etwas anderes zuschulden kommen ließen, als nur Tadschiken zu sein.

Für die russischen Blogger ist das Grund genug, sich zu freuen. "Endlich zeigen wir ihnen, wo sie hingehören!".

Razzien gegen Tadschiken in Tscheljabinsk - aus TG-Kanal von Andrei Medwedew

Obwohl der Krieg diesen Hass zu verstärken scheint, hat er schon vor langer Zeit begonnen. Wie das gesamte Phänomen des russischen Rassismus und Nationalsozialismus lässt es sich bis in die Sowjetzeit zurückverfolgen.

Eine der wichtigsten Heldenfiguren der heutigen russischen Nazis ist Maxim Martsinkewitsch. Er begann in den späten 1990er Jahren Tadschiken anzugreifen.

Verurteilt wegen Mordes aus Hass, starb er 2020 im Gefängnis von Tscheljabinsk. Seine Beerdigung war eine Massenkundgebung der russischen extremen Rechten.

Vor diesem Hintergrund möchte ich nun auf eine bestimmte Telegram-Meldung eingehen, die du meine Ansicht nach kennen solltest. Sie erschien auf einem relativ unbedeutenden Kanal namens "Golos Velikorusa" ("Die Stimme eines russischen Imperialisten"), wurde aber von bekannteren Personen weiterverbreitet.

Ich werde meine gekürzte Zusammenfassung präsentieren (mit wichtigen Screenshots, falls du dein Russisch auffrischen wolltest):

Man muss bedenken, dass unsere Einwanderer anders sind als die in Europa. Die Migranten in Europa gehen dorthin, um Sozialhilfe zu erlangen, und ihre optimale Strategie besteht darin, ruhiger als Wasser, tiefer als Gras zu sein und für das bessere Leben ihrer Kinder dankbar zu sein. Wenn sie sich unordentlich benehmen, dann nur aus Hooligan-Motiven.

Unsere Einwanderer sind anders. Sie kommen nicht wegen der Sozialhilfe hierher, die gibt es nicht. Sie kommen, um zu arbeiten, aber so einfach ist das nicht. Es ist fast unmöglich, auf der Straße Arbeit zu finden.

"Gewalt ist ihre Norm", sagt Golos Velikorusa

Infolgedessen ist jeder Migrant in Russland stark von seiner Diaspora abhängig. Clan-Solidarität in Verbindung mit ethnischer Gewalt ist die einzige Möglichkeit, hier zu überleben. Für sie ist es normal, diese Methoden bei ihren Geschäften anzuwenden. Migrantengewalt ist systemisch, aber wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.

Wie geht es weiter? Wir werden von ehemaligen Komsomolzen ("postsowjetische Liberale mit blutendem Herzen") regiert, die immer noch an den Internationalismus glauben. Sie waren zu weich gegenüber der Ukraine, sie glaubten an die Minsker Vereinbarungen und weigern sich bis heute, ihre Naivität einzugestehen.

"Wir werden von ehemaligen Komsomolzen regiert", beklagt Golos Velikorusa

Die Migranten sind die einzige organisierte Struktur, die in der Lage ist, die russischen Städte ernsthaft zu destabilisieren. Alles, was der Westen jetzt braucht, sind Menschen, die ihre Sprache sprechen. Wenn sich die Migrantenunruhen ausbreiten, werden wir überschwemmt werden. Und die ehemaligen Komsomolzen werden sich im Fernsehen hilflos fragen, was passiert ist".

Ich möchte noch einmal betonen, dass ich NICHT die "Stimme von Velikorus" wiedergebe, weil ich seine Ideologie unterstütze. Ich denke nur, dass dies der Teil der russischen Realität ist, der den meisten Menschen im Westen nicht bewusst ist.

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Kommentar

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (14) – Der Mythos vom „Völkermord in Donbass“

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/the-myth-of-the-genocide-in-donbas

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Der Mythos vom "Völkermord in Donbass"

Mit einer Portion "ukrainischer Biolabore"!

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Ein zufälliges Ergebnis der Suche nach „Genozid im Donbas“ auf Facebook. Übersetzung:
"Über 14.000 Zivilisten russischer Abstammung wurden im Donbass von von den USA ausgebildeten Soldaten getötet..."

Wahrscheinlich bist du dieser Person mindestens einmal im Internet begegnet - jemanden, der wirklich davon überzeugt ist, dass die Ukraine seit 2014 im Donbass einen Völkermord begeht und 14 000 russischsprachige Bürgerinnen und Bürger tötete. Der oben abgebildete Screenshot ist ein Beispiel für eine solche Behauptung.

Wenn du diese Person wieder triffst, tue mir bitte einen Gefallen: Frage sie nach der Quelle für diese Informationen.

Natürlich weiß ich, und du weißt es auch, dass solche Personen die westlich-imperialistische Vorstellung von "Quellen" ablehnen. Normalerweise schreckt sie diese Frage einfach ab, und die einzige Antwort, die du erhältst ist, dass du geblockt wirst. Aber vielleicht hast du mehr Glück als ich?

Diese Propaganda-Behauptung ist zu absurd, um für innenpolitische Zwecke verwendet zu werden. Russische Medien sagen es nicht auf Russisch, aber sie behaupten es in westlichen Sprachen - dieser spezielle Screenshot stammt aus einem Propagandakanal, der eindeutig für Afrika bestimmt ist.

Mit gesundem Menschenverstand ist das aber nicht zu erklären. War es ein einziges Massaker mit 14.000 Toten? Dann sollte es ein konkretes Datum und einen konkreten Ort haben, richtig? Wann und wo genau ist es denn passiert?

Oder waren es vielleicht - sagen wir - 7 Massaker pro 2k? Oder vielleicht töteten die berühmten ukrainischen Nazi-Todesschwadronen 5 Menschen pro Tag? Okay, okay, aber wo sind die Gräber? Wo sind die Beweise, die das belegen?

Da es unmöglich ist, eine Antwort auf diese Frage zu finden, gehe ich davon aus, dass die Zahl von "14000 Opfern" einfach dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen-Bericht von Anfang 2022 entnommen wurde, der unten zitiert wird. Die zwei Zahlen sind doch sehr ähnlich, oder?

Ein Ausschnitt aus dem UN-Bericht zum Krieg in der Ukraine 2014–2022

Aber die Sache ist die: Es handelt sich NICHT um die Zahl der Opfer der mythischen "ukrainischen Nazis". Es ist die Gesamtzahl der Opfer auf BEIDEN Seiten des Konflikts.

Soldaten beider Seiten machen den Großteil dieser Zahl aus. Es handelt sich um etwa 4400 ukrainische Soldaten und 6500 der "bewaffneten Gruppen" (wie der Bericht treffend die von Russland geführten Paramilitärs beschreibt, die 2014 in die Ukraine einmarschierten und sich als "lokale Separatisten" ausgaben).

Etwa 3400 sind Zivilisten. Wiederum: auf BEIDEN SEITEN. Diese Zahl schließt 298 Opfer des zivilen Passagierflugzeugs MH-17 ein, das von den russisch geführten Paramilitärs abgeschossen wurde. Igor Girkin (geboren in Moskau, wohnhaft in Moskau, der als "Anführer der Donbass-Separatisten" fungierte) ist eine der drei Personen, die in Abwesenheit für dieses Kriegsverbrechen verurteilt wurden.

Übrigens: Die Grafik zeigt, dass die meisten Opfer in den ersten beiden Jahren des Krieges zu beklagen waren. Nach 2018 war der Konflikt nicht mehr so intensiv, sondern beschränkte sich auf Gegenbatteriefeuerduelle (die russischen Propagandisten bezeichnen diese Duelle als "ukrainischen Beschuss im Donbass", so als ob die Russen aus irgendeinem Grund nicht geschossen hätten). Dies zeigt einmal mehr, wie falsch es ist, zu glauben, dass "Russland keine andere Möglichkeit hatte, als einzumarschieren, um das Massaker an 25 Soldaten pro Jahr auf beiden Seiten zu beenden".

Ähnlich wie bei den "ukrainischen Biolaboren" nimmt diese Propaganda-Behauptung einige echte Informationen ("14000 Opfer der russischen Invasion") und verdreht sie in "14000 Opfer des ukrainischen Völkermords". Für Unwissende oder böswillige Personen wie Elon Musk oder Aaron Mate ist das ein gefundenes Fressen.

Glenn Greenwald regt sich über den Biolabor-Nothingburger auf (aus seinem Twitter-Profil). Übersetzung: "Die Ukraine verfüge über "biologische Forschungseinrichtungen", sagte Unterstaatssekretärin Victoria Nuland auf die Frage von Senator Rubio, ob die Ukraine über biologische oder chemische Waffen verfüge, und äußerte die Befürchtung, dass Russland in den Besitz dieser gelangen könnte. Aber sie sagt, sie sei sich zu 100% sicher, dass ein biologischer Angriff von Russland ausginge."

Ähnlich wurde mit den berühmten "ukrainischen Biolabore" verfahren. Jedes Land hat biologische Labore. Sogar in der Grundschule, in der ich vor Jahren meinen Abschluss gemacht habe, gab es eines.

"Oh nein, wir meinen nicht diese Art von Biolaboren, wir meinen das, in dem die bösen Wissenschaftler biologische Waffen entwickeln, während sie diabolisch lachen!" - Ja, OK, aber wo sind die Beweise für DIESE Art von Biolaboren in der Ukraine? Wieder - nirgends.

"Aber Victoria Nuland hat zugegeben...". Was zugegeben? Die Existenz von Laboren in der Ukraine? Natürlich gibt es sie. Die gibt es in jedem Land.

Dass sie gefährliches Material enthalten? Natürlich enthalten sie gefährliche Stoffe. Obwohl ich persönlich eher zu den Chemielabors tendieren würde - selbst in einem durchschnittlichen Chemielabor in der Schule gibt es wirklich gefährliche Sachen (du willst nicht mit dem Chlorwasserstoffgas herumspielen, Junge).

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Meine Ergänzung: Ich hatte auch Diskussionen mit Russlandverstehern über die "ukrainischen Biolabore". Deren Behauptung war, es gebe zehntausende von durchgesickerten ukrainischen Dokumenten die beweisen, dass die Ukrainer an biologischen Waffen gearbeitet hätten, diese Arbeit von USA beauftragt würde, und alle diese Dokumente seien im Internet zu sehen. Einen Link dazu konnte ich aber nicht bekommen.

Dann suchte ich selber danach, und alles was ich von diesen "zehntausenden" finden konnte, war etwa 20 Dokumente auf Englisch und Ukrainisch. Die kamen wirklich aus einem zur Armee gehörendem Institut, und betrafen meistens klinische Versuche. Die Leiter und Probanden waren Soldaten. Es ging um ein Präparat, das du dir selber legal kaufen kannst -  kolloidale Fullerene C60. Ein richtiger Grund für den Krieg, oder?

Falls du einen Link zu gefährlicheren ukrainischen Dokumenten hast, schick mir ihn bitte, ich lese die gerne. Aber ich glaube nicht, dass die russische Propaganda hier Recht hat - die sagen nur ausnahmsweise Wahrheit (oder wenn sie sich versprechen). 

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Kommentar

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (13) – Plädoyer für eine stärkere NATO

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/the-case-for-stronger-nato

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Plädoyer für eine stärkere NATO

Warum sind die östlichen Länder die proatlantischsten in Europa?

In meinem letzten Beitrag erwähnte ich beiläufig das schlimmste geopolitische Alptraumszenario für die "kleinen Länder" Osteuropas. Es handelt sich um ein Bündnis ähnlich dem Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 oder dem Wiener Kongress von 1815, bei dem die europäischen Großmächte (insbesondere Deutschland und Russland) gemeinsam beschlossen, dass die "kleinen Länder" nicht existieren und von ihren größeren Nachbarn aufgeteilt/aufgelöst/marionettiert werden sollten.

"Oh Mist! Wir haben den Balkan vergessen…", ein BBC-Sketch aus der Serie "A Bit of Fry and Laurie", in dem das frühe Europa nach dem Kalten Krieg auf die Schippe genommen wird (vorgeblich der Westfälische Vertrag)

In dieser Notiz gehe ich von der Annahme aus, dass die "kleinen Länder" besser dran sind, wenn sie unabhängig sind. Einige Leute werden anderer Meinung sein - so wie heute einige behaupten, dass die Ukraine besser dran wäre, wenn sie von Russland annektiert würde ("da sie die gleiche Sprache sprechen" usw.).

Einige Leute behaupteten auch, dass der Kolonialismus eine gute Sache sei, weil all diese undankbaren Eingeborenen unter der Herrschaft der Weißen besser dran seien. Erstaunlicherweise handelt es sich oft um die gleichen Leute, die der „Schule der Realpolitik“ angehören.

Eine ausführliche Debatte über dieses Argument würde zu weit vom Thema dieser Notiz abschweifen (falls gewünscht, kann ich sie in Zukunft erweitern). Heute sage ich einfach "Schwachsinn" zu all den Mearsheimers und Kissingers dieser Welt und mache weiter.

Lassen Sie mich mit der offensichtlichen, aber häufig vergessenen Tatsache beginnen, dass die NATO auf den Schutz kleiner Länder ausgerichtet ist. Sie können bei wichtigen Entscheidungen ein Veto einlegen – und obwohl Ungarn dieses Recht offensichtlich missbraucht, bin ich immer noch froh, dass sie es haben.

Sowohl die NATO als auch die Europäische Union (damals: nur Gemeinschaft) wurden weitgehend von Politikern aus kleinen Ländern entworfen. Der Belgier Paul-Henri Spaak kann als einer der Gründerväter sowohl der NATO als auch der EU (EG) angesehen werden.

Der derzeitige NATO-Generalsekretär stammt aus Norwegen. Der vorherige kam aus Dänemark. Petr Pavel, der Präsident von Tschechien, machte seine Karriere in der Politik über seine Führungsposition in der NATO. Ich denke, ich brauche keine weiteren Beispiele, um zu zeigen, dass die NATO im Allgemeinen ein guter Ort für kleine Länder ist – wir können die Entscheidungen nuklearer Supermächte, unserer Verbündeten, ablehnen oder überstimmen, unsere Stimmen werden gehört und häufig mit „Jawohl!“ beantwortet.

Das ist einzigartig. Mir fallen einige ähnliche Militärbündnisse im Mittelalter oder in der Antike ein, aber nicht in der Neuzeit ("neuzeitlich" im Sinne von: seit dem Westfälischen Frieden von 1648, es ist also eine ziemlich großzügige Definition von Neuzeit).

Ein typisches modernes Militärbündnis besteht entweder aus einem hegemonialen Staat, der von seinen Klienten-/Marionetten-/Vasallenstaaten begleitet wird (z.B. Warschauer Pakt), oder es ist eine Vereinigung von Hegemonen, die untereinander entscheiden, wie sie andere Nationen aufteilen, kolonisieren und beherrschen. Ein typisches Beispiel ist die „Pentarchie“, die sich aus der „Heiligen Allianz“ entwickelt hat, die ich im vorherigen Beitrag erwähnt habe – europäische Supermächte, teilten Asien, Afrika, der Karibik, aber auch Osteuropa fröhlich unter sich auf und zogen die neuen Grenzen, ohne sich die Mühe zu machen, die Einheimischen zu fragen, was sie davon halten.

Nun, zumindest seit den Zeiten Karls des Großen, hat es in Europa IMMER irgendein System von Bündnissen gegeben, vom mittelalterlichen Universalismus der „Res Publica Christiana“ bis zur Gegenwart. Angenommen, wir lösen die NATO morgen auf - ETWAS muss sie ersetzen, sonst werden wir einen Krieg aller gegen alle haben (wie es in Europa mehr als einmal passiert ist).

Aus der Sicht eines kleinen Landes (einige polnische Autoren betonen gerne, dass wir eigentlich als „mittelgroß“ gelten, aber ich denke, je weiter man mit der Größe ins Detail geht, desto peinlicher wird es) stallt sich die Frage: wird das neues ETWAS gleich gut für uns sein? Welche Garantie haben wir, dass das neue Bündnissystem Europas nicht wie die traditionelle „Pentarchie“ aussehen wird?

Die „großen Länder“ tendieren immer dazu. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war es der amerikanische Präsident (Franklin D. Roosevelt), der die Idee von „vier Polizisten“ als Garantie für zukünftigen Frieden propagierte. Mit vielen Modifikationen (die ursprünglichen vier wurden mit Frankreich erweitert) wurde es schließlich in den UN-Sicherheitsrat eingebettet.

Was wir „westlichen Verrat“ oder „Jalta-Verrat“ nennen, war eigentlich eine jahrhundertealte Tradition der „großen Länder“, die uns – die kleinen Länder – untereinander austauschten. Die vier (fünf) Polizisten einigten sich untereinander darauf, dass wir (die kleinen Länder Osteuropas) gezwungen werden, dem von Sowjetunion dominierten „Hegemonbündnis“ beizutreten. Niemand hat uns gefragt, ob es uns gefällt oder nicht.

Aus Facebook-Fanpage "In Ukraine"

Wir sehen die NATO als das Einzige, was uns davor bewahren kann, dass so etwas noch einmal passiert. In der NATO haben wir zumindest eine Stimme.

Das „neue Bündnis“ müsste sich stark an die NATO anlehnen, weil die NATO viel in Sachen Standardisierung und Vereinheitlichung erreicht hat. Es gibt immer eine klare Befehls- und Kommunikationskette.

In der Geschichte der Militärbündnisse war dies immer ein ernstes Problem. Sowohl die Kriegsanstrengungen der Achsenmächte als auch der Alliierten litten stark unter dem Mangel an gegenseitigem Vertrauen und Kommunikation – Mussolini und Hitler waren nicht in der Lage und/oder nicht bereit, ihre Bemühungen zu koordinieren. Auf Seiten der alliierten war es vielleicht etwas besser, aber die Rivalität zwischen Montgomery und Eisenhower behinderte auch den Feldzug an der Westfront.

Die „neue Allianz“ müsste diese ganze Arbeit entweder wegschmeißen – und das wäre einfach eine riesige Ressourcenverschwendung. Oder sie würde NATO-Standards, NATO-Handbücher, NATO-Munition, von der NATO geschultes Personal, NATO-Gebäuden und natürlich das berühmte „Whisky-Tango-Foxtrott“-NATO-Schreibsystem verwenden. Wir würden am Ende eine umbenannte NATO haben, mit einem neuen Logo und neuem Briefpapier. Wieso sich dann die Mühe machen?

Ein Ausschnitt von Noam Chomsky (aus Truthout) (Übersetzung: "Irgendwie habe ich die Rufe der Linken nach einer Wiederbelebung des Warschauer Pakts vermisst, als die USA in den Irak und nach Afghanistan einmarschierten und auch Serbien und Libyen angriffen - natürlich immer mit Vorwänden").

Von all den dummen Dingen, die Noam Chomsky jemals über die NATO gesagt hat, ist das oben zitierte  das dümmste (aus seinem Interview mit C.J. Polychroniou vom Februar 2023). Auch wenn er sarkastisch sein sollte, ist allein die Vorstellung, dass „die Linke die Wiederbelebung des Warschauer Paktes fordern solle“, einfach verrückt.

Erstens ist es in Warschau nicht willkommen. Polen war nämlich das erste Land, das sich VOM Warschauer Pakt emanzipierte. Dieser Name ist so dumm wie „Jerusalemer Vereinigung der Bauchspeckliebhaber“. Ehemalige Länder des Warschauer Pakts sind mehr pro-NATO als die alten NATO-Länder.

Wenn Chomsky „die Notwendigkeit einer Anti-NATO“ meint, dann existiert sie natürlich. Sie heißt OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) und besteht aus Russland und fünf weiteren Ländern, die Russland zum Beitritt gezwungen hat: Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Turkmenistan.

Dies ist die typische „Hegemon-Staat“-Allianz, die ich zuvor erwähnt habe. So war auch der Warschauer Pakt. Russland scheint nicht in der Lage zu sein, andere Arten von Allianzen zu bilden (die Zeit wird es zeigen, wie immer, aber ich glaube nicht, dass BRICS mehr als ein Debattierklub sein wird).

Niemand tritt dem „Hegemon“-Bündnis freiwillig bei. Man tritt ein, wenn man zu schwach ist, um es abzulehnen (und dann sucht man nach der ersten Gelegenheit, sich zu befreien). Kasachstan und Armenien versuchen bereits, sich zu emanzipieren und sehen die Chance darin, dass die Kräfte des Hegemons im ukrainischen Sumpf feststecken.

Chomsky scheint nicht zu wissen, das es die OVKS überhaupt gibt, und das kann man ihm verzeihen. Im Gegensatz zur NATO ist sie einfach eine Verlängerung der russischen Politik. OVKS ist seltsamerweise nicht nur im Ukrainekrieg, sondern auch in den jüngsten Konflikten zwischen Armenien und Aserbaidschan oder Kirgisistan und Tadschikistan abwesend.

The Ghost Writer – ein Thriller von Roman Polanski aus dem Jahr 2010 (basierend auf dem Roman von Richard Harris aus dem Jahr 2007), in dem der britische Premierminister vom IStGH wegen der kriminellen Invasion des Irak angeklagt wird. Leider war es nur politische Fiktion.

Menschen, die sagen, dass sie „Anti-NATO“ sind, erwähnen gewöhnlich Kriegsverbrechen, die von bestimmten NATO-Staaten begangen wurden. Ich persönlich halte die Invasionen im Irak und in Afghanistan für kriminell dumm und bedauere zutiefst, dass der Internationale Strafgerichtshof George W. Bush und Tony Blair nicht angeklagt hat. Damit wurde Putin ermutigt.

Aber „ist George W. Bush ein Kriegsverbrecher?“ ist eine GANZ ANDERE FRAGE als „ist eine stärkere NATO gut für Polen, Belgien, Finnland, Rumänien usw.“. Ich glaube nicht, dass die erste Frage für die zweite überhaupt relevant ist.

Ich bin nicht immer mit der Politik aller einzelnen NATO-Staaten einverstanden. Ich bin oft nicht mit der amerikanischen Politik einverstanden, ich bin oft nicht mit der französischen Politik einverstanden, ich bin oft nicht mit der türkischen Politik einverstanden, ich bin ganz sicher nicht mit der ungarischen Politik einverstanden. Ich bin oft nicht mit meiner eigenen Regierung einverstanden (und ich genieße es irgendwie, dass ich nicht in Russland lebe und das tun darf).

Aber ich sage nicht, dass "USA" für „United States of Angels“ steht. Alles, was ich sage ist: Warschau ist in der NATO besser aufgehoben als in der Neutralität – geschweige denn in einem neuen „Warschauer Pakt“ mit Russland.

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Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (12) – Über den „Stellvertreterkrieg“ in der Ukraine…

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/about-the-proxy-war-in-ukraine

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Über den "Stellvertreterkrieg" in der Ukraine...

Für unsere Freiheit und eure

Viele Menschen im Westen versuchen, den ukrainischen Unabhängigkeitskampf als „Stellvertreterkrieg“ zu diskreditieren. Du hast vielleicht bemerkt, dass diese Beleidigung in Osteuropa auf taube Ohren stößt. Hier ist der Grund dafür.

Karte von Alexander Altenhof - CC BY-SA 4.0

Dies ist die Karte von Europa im Jahr 1815. Es ist wahrscheinlich die schlimmste Zeit in der Geschichte aller unserer Länder – nicht nur Polen und die Ukraine fehlen auf der Karte, sondern beispielsweise auch Rumänien, Griechenland, Belgien und Italien. Norwegen wird großzügig erwähnt, ist aber eigentlich nicht unabhängig (es ist ein Juniorpartner von Schweden).

Die Koalition der europäischen Tyranneien gegen die französische Revolution entwickelte sich zur antinapoleonischen Koalition und schließlich zur Heiligen Allianz. Europäische Supermächte, insbesondere Österreich, Russland und Preußen, schufen eine Reihe gegenseitiger Zusicherungen, um die göttliche Macht der Könige zu schützen, indem sie alle revolutionären Bewegungen in Europa niederschlugen.

1815 sah die Demokratie aus wie eine verlorene Sache. Sollten sich Menschen – etwa in Rom – je gegen die klerikale Tyrannei des Kirchenstaates auflehnen und sagen „Wir wollen in einer säkularen Republik leben, mit freien Wahlen und Redefreiheit“, würde der Papst einfach den Österreicher um Hilfe rufen, französische oder spanische Armeen in den italienischen Marionetten-„Königreichen“ stationieren und die Rebellion im Blut ertränken. Wie es 1821, 1831, 1849 und 1859 geschah.

Ich erwähne Italien, weil damals die osteuropäischen Nationen das gleiche Schicksal mit einigen westlichen Nationen teilten, die ebenfalls „nicht auf der Landkarte vorhanden“ waren. Daraus ergaben sich einige Trivia: Italien wird in der polnischen Hymne erwähnt und umgekehrt, weil wir uns damals als Waffenbrüder im gesamteuropäischen Kampf gegen das internationale Unterdrückungssystem fühlten („Papst und Zar, Metternich und Guizot“…) .

Die polnische Hymne beginnt mit der Aussage „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben“. Wenn du es der ukrainischen Hymne überraschend ähnlich findest, dann deshalb, weil das polnische Kriegslied von 1797 eine Inspiration für das panslawische patriotische Lied „Hej Slawen!“ war, das wiederum eine Inspiration für die ukrainische Hymne wurde.

Die polnische Hymne geht dann in eine Deklaration über: „Marsch, Marsch, Dąbrowski, von Italien nach Polen“. Für Kinder, die es zum ersten Mal lernen, ist es seltsam: Warum geht es in der polnischen Hymne darum, von Italien nach Polen zu marschieren, sollte es nicht umgekehrt sein? Und wer zum Teufel ist Dąbrowski?

Die italienische Hymne besagt, dass der „österreichische Adler“ in Begleitung von Kosaken polnisches und italienisches Blut getrunken hat, aber er wird daran ersticken. Dieses Gefühl der Brüderlichkeit war im 19. Jahrhundert real. Damals kämpften polnische Freiwillige für die italienische Freiheit, aber auch italienische Revolutionäre für die Freiheit der Balkanstaaten.

Ein Denkmal, das Tadeusz Kościuszko gewidmet ist – dem Held Polens und der USA (Bildnachweis unbekannt)

Die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts glaubten allgemein, dass die Förderung der Freiheit überall die Sache der Freiheit voranbringen würde. Wenn du dich die Karte von 1815 ansiehst, war das nicht so dumm. Wenn das österreichische Kaiserreich in Italien geschlagen wird, könnten polnische Revolutionäre in Galizien eine Chance haben.

Fast jedes Land auf dieser Karte ist eine autokratische, absolute Monarchie (die Schweiz ist die größte Ausnahme). Keine Verfassungen! Sie kämpften gegen Napoleon, genau um die Idee des Konstitutionalismus zu töten – und 1815 schien es, als hätten sie es geschafft.

Natürlich war es für beide Seiten, Revolution und Reaktion, sehr naiv. Die Reaktionäre waren unangenehm überrascht, dass dieses undurchdringliche System nicht so undurchdringlich war. Mit Ausnahme von Russland haben sich alle diese Länder innerhalb von 100 Jahren in Republiken oder konstitutionelle Monarchien verwandelt.

Die Überraschung der Revolutionäre war noch bitterer. Die Gleichsetzung von „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ erwies sich als Irrtum, als unsere Länder 1918 (wieder) auf der Landkarte auftauchten. Kurze Experimente mit der Demokratie endeten ziemlich bald in autokratischen Putschen, und in den 1930er Jahren war es (fast) alles Diktatur.

Was noch schlimmer war: Es stellte sich heraus, dass die bis dahin unterdrückten kleineren Nationen nicht kooperieren konnten. 1848 hieß es „Freiheit für einen bedeutet Freiheit für alle“. 1918 wurde daraus „Polen gegen alle Nachbarn“, „Tschechoslowakei gegen alle Nachbarn“, „Ungarn gegen alle Nachbarn“, „Jugoslawien gegen alle Nachbarn“, „Griechenland gegen alle Nachbarn“ – und so weiter.

Mitteleuropa Ende 1940. Die meisten Länder, die um 1918 auf dieser Karte (wieder) auftauchten, verschwanden wieder von der Karte. Jugoslawien ist noch da, aber nicht mehr lange. Karte von San Jose CC BY SA 3.0

Dies führte zu einer Reihe der schrecklichsten Fehler in der Außenpolitik unserer Länder. Am Ende kämpften wir entweder allein gegen Hitler und/oder Stalin – und verloren, wie Polen. Oder als ihre Vasallen, die einfach „freiwillig“ aufgegeben haben, in der Hoffnung, dem Schicksal Polens zu entgehen. Bis 1940 waren unsere Länder wieder größtenteils von der Landkarte verschwunden (auch wenn einige von ihnen als Marionettenstaaten überlebten).

Die polnischen Soldaten, die es aus dem gefallenen Land geschafft haben (meistens über Rumänien und Ungarn), taten, was ihre Vorfahren in ähnlicher Lage taten. „Polen ist noch nicht verloren“, also kämpften sie in Frankreich, Norwegen und Nordafrika.

Polnische Kampfpiloten des 303. RAF-Geschwaders schützten den britischen Himmel während des Blitzes. Sie hatten gehofft, den polnischen Himmel irgendwann schützen zu können - sie hatten nie die Gelegenheit dazu.

Gene Hackman als Sosabowski in dem epischen Attenborough-Film – kurz davor, einen Stellvertreterkrieg für Polen in Holland zu führen

Sosabowskis Fallschirmjäger trainierten in der Hoffnung, in Polen abgesetzt zu werden. Stattdessen wurden sie nach Arnheim geschickt. Die Briten sagten, es sei „eine Brücke zu weit“, aber für sie waren es immer noch „99 Brücken vor Polen“.

Für die Soldaten von Maczek und Anders war der Westfeldzug des Zweiten Weltkriegs ein Stellvertreterkrieg. So wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ein Stellvertreterkrieg für Tadeusz Kościuszko und Kazimierz Pułaski war. Der Amerikanische Bürgerkrieg wurde von den Soldaten der Polnischen Legion als Stellvertreterkrieg angesehen, der Spanische Bürgerkrieg von den Soldaten der Polnischen Brigade („Dąbrowszczacy“).

„Im Namen Gottes, für unsere und eure Freiheit“ - Banner des (wie üblich) gescheiterten polnischen Aufstands von 1830-1831

Wir halten das Motto „Für unsere und eure Freiheit“ hoch. Manchmal kannst du nicht direkt für dein Land kämpfen, also kämpfst du für ein anderes Land – es ist dann ein Stellvertreterkrieg. In Osteuropa verehren wir Menschen, die in diesen Stellvertreterkriegen gekämpft haben, als unsere größten Helden.

Ich werde es mit nur einem Beispiel beenden: Józef Bem alias Murat Pasha. Er kämpfte für Polen. Als es nicht mehr ging, kämpfte er für Ungarn. Als es nicht mehr ging, kämpfte er für die Türkei. Er starb in Aleppo.

Der große polnische Dichter Cyprian Norwid hat ein sehr intensives Gedicht über seinen Tod geschrieben, in dem er sein imaginäres Begräbnis beschreibt – stilisiert als surreale antike Zeremonie. Wie jeder anständige Dichter der Romantik war Norwid ein Drogenkonsument, und seine Vorstellungskraft war nicht von dieser Welt.

Das Gedicht wurde 1969 von Czesław Niemen (Roger Waters alberte damals noch mit „Ummagumma“) als psychodelischer Progressive Rock umgearbeitet. Auch wenn du die polnischen Worte nicht verstehst, kannst du das vom grimmigen Chor wiederholte lateinische Motto hören – angeblich ein Zitat von Hannibal – „ius iurandum patri datum usque ad hanc diem ita servavim“ („das Ehrenwort, das ich gegeben habe meinem Vater [Land] habe ich bis heute gehorcht“).

Höre dich diesen Song an - und sei es nur, um deine Prog-Rock-Hipster-Referenzen zu verbessern. Und denke daran, was wir denken, wenn jemand sagt: „Die Ukraine führt einen Stellvertreterkrieg“. Unsere Antwort: „Ja, und?

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Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (11) – Das Leben in Russland ist die Hölle.

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/living-in-russia-is-hell

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Das Leben in Russland ist die Hölle.

Selbst russische Oligarchen leben lieber im Westen

Wenn du dies liest, bist du wahrscheinlich schon einmal jemandem begegnet, der sich als „pro-russisch“ bezeichnet. Vielleicht bist du selbst so einer?

Es gibt eine Frage, die ich allen „pro-russischen“ Menschen stellen möchte, besonders in der westlichen Welt. Wenn du sie triffst, frage sie bitte in meinem Namen.

Die Frage ist: Was gefällt dir besonders an Russland? Jemals dort gewesen? Planst du einen Umzug?


Der russische Propagandist Solowjow drückt seinen Hass auf den Westen mit westlicher Technologie aus (Bildschirm von Julia Davies Twitter) Übersetzt: "Solowjow spricht in ein Mikrofon der Firma Shure, hat ein Apple iPad auf seinem Tisch, ein IPhone 12 pro max und ein Apple Watch Ultra, und fragt, welche Werte Westen der Welt gebracht hat?"

Fährst du ein russisches Fahrzeug? Verwendest du einen russischen Laptop oder ein russisches Smartphone? Trägst du russische Kleidung?

Ist das eine RussiaWatch an deinem Handgelenk? Wenn du Fernsehserien konsumierst, siehst du dich Ruflix auf einem russischen Fernsehgerät an, während du auf einem Sofa sitzt, das von der weltberühmten Möbelfirma RUSKEA hergestellt wurde?

Vielleicht magst du Mussorgski oder Tschaikowski. Ich auch (wer nicht?). Aber hörst du sie dir auf einer in Russland hergestellten Stereoanlage an, oder ist es in der Wirklichkeit Denon oder Sony?

Vielleicht ist es die Volksküche? Borschtsch, Bliny, Pelmeni, solche Sachen? Aber sie sind nicht Russisch, sie sind Ruthenisch, also: in der Ukraine oder Polen oder Litauen sind sie genauso authentisch (und die Toilette im Restaurant wird sauber sein, was in Moskau nicht so selbstverständlich ist, glaub mir).

Ich war seit Jahren nicht mehr in Russland, daher könnten meine Eindrücke etwas veraltet sein, aber ich glaube nicht, dass sich die Situation zum Besseren verändert hat. Zum Beispiel ist der Prozentsatz der Haushalte mit Sanitärinstallationen tatsächlich leicht RÜCKGÄNGIG.

Es könnte eine Überraschung für die Menschen in anderen Ländern sein, wo die Dinge im Allgemeinen vorwärts gehen – aber in den letzten zehn Jahren oder so bricht Russland tatsächlich zusammen. Das ist ihr letztes Hurra.

Es ist der klassische „Ressourcenfluch“. Früher verdiente Russland genug Geld mit dem Export von Rohstoffen, es gab wenig Anreiz, in etwas anderes zu investieren.

Auf dem Papier stieg ihr BIP (bis zu einem bestimmten Punkt). Aber selbst wenn es so war, bedeutete es dem durchschnittlichen Iwan Iwanowitsch Iwanow sehr wenig. Ein Löwenanteil wurde von einer Handvoll Oligarchen eingesteckt, die normalerweise nicht einmal in Russland leben (der wertvollste Besitz für einen Russen ist ein ausländischer Pass).

Aus diesem Grund hast du wahrscheinlich nie ein russisches Auto besessen. Ja, Russland stellt sie her, aber sie waren tatsächlich amerikanisch (Ford Model B lizenziert als Gaz M-20 Pobeda), italienisch (Fiat 124 lizenziert als Lada / Schiguli), französisch (ein Haufen neuerer Lada-Modelle, eigentlich Budgetversionen von Renault). und derzeit Chinesisch.

Sie werden hauptsächlich auf dem heimischen Markt für Russen verkauft, die keine andere Wahl haben. Es gibt einige "Export"-Versionen, aber wirklich, warum sollst du einen schlechten Renault-Imitat kaufen wollen, wenn du dich ein richtiges Renault leisten kannst?


Putin in Mariupol in einem Auto, das definitiv NICHT in Russland hergestellt wurde - Standbild aus Video aus Russia24

Wenn Putin bei seinem jüngsten Besuch im Donbass mit dem Auto über die Krimbrücke oder um Mariupol fährt, tut er das nie in Lada Schrotta. Es ist ein Mercedes, Toyota oder Lexus. Sogar Russen hassen russische Autos.

Ich kann es ihnen nicht übel nehmen. In meinem langen Leben bin ich Lada 2107 und Lada Samara gefahren. Ich bin auf westliche Autos umgestiegen, sobald ich es mir leisten konnte (in diesem Zusammenhang, wie in vielen anderen, schließt „westlich“ auch Japanisch und Koreanisch ein). Russen wollen es auch tun, aber in der Europäischen Union kann sich eine Person mit einem durchschnittlichen Gehalt ein westliches Auto leisten. Für Iwan Iwanowitsch Iwanow ist es ein Wodka-Traum.

Im Westen nehmen wir vieles als selbstverständlich hin. Sieh dich einfach bei dir um, dort, wo du das hier liest.

Du hast wahrscheinlich einen funktionierenden Kühlschrank in deiner Küche. Einige deine Lieblingsdelikatessen sind drin – vielleicht ist es gereifter Käse, vielleicht Hummus, wahrscheinlich ein Erfrischungsgetränk. Du hast es in einem Laden um die Ecke gekauft, es hat dich keine Unsummen gekostet.

Das meiste davon ist selbst in Moskau schwer zu kaufen und in „glubinka“ (tiefes Territorium) einfach nicht erhältlich. Iwan Iwanowitsch Iwanow kann Prosciutto einfach nicht mit Prosecco genießen. Für einen Oligarchen ist natürlich nichts unmöglich - er bekommt es per Helikopter sogar nach Sibirien geliefert. Aber ich versuche, durchschnittliche Personen zu vergleichen - Iwanow mit Nowak, Dupont oder Schmidt.

Iwanow hat, technisch gesehen, einen Kühlschrank, den er gekauft hat, als er das letzte gute Jahr hatte (in Bezug auf die Finanzen). Dann funktionierte er nicht mehr, die Ersatzteile waren ihm zu teuer, jetzt sind sie wegen Sanktionen nicht mehr verfügbar. Also benutzt er seinen Kühlschrank als einen schicken Schrank, um das Geschirr aufzubewahren (eine überraschend häufige Einrichtung in russischen Haushalten).

In Russland existiert vieles nur auf dem Papier. In der offiziellen Statistik wird Iwanow als jemand aufgeführt, der einen Kühlschrank besitzt. Er wird sogar als jemand aufgeführt, der Sanitärinstallationen hat – er hat vielleicht sogar eine Toilettenschüssel (Ein Glück für einen durchschnittlichen Russen!), aber das fließende Wasser reicht nicht bis zu seiner Etage, also benutzt er es nicht für sein „großes Geschäft“. Aus dem gleichen Grund kann er keine Waschmaschine in seinem Badezimmer haben.

Die Karte des trinkbaren Leitungswassers – beachte, dass diese Ressource fast ausschließlich im Westen verfügbar ist. Die neuen EU-Mitglieder haben es kaum geschafft, das jüngste Paar: Bulgarien und Rumänien sind auf halbem Weg. Quelle: CDC.

Im Westen sind wir es gewohnt, dass fließendes Wasser nicht nur läuft, sondern sogar TRINKBAR ist. In Russland ist das nicht einmal in Moskau der Fall – wenn Sie die verrückte Idee haben, Leitungswasser zu trinken, wird Sie der Geruch wieder zur Besinnung bringen.

Ein durchschnittlicher westlicher Mensch hat entweder einfachen Zugang zu einem bequemen öffentlichen Verkehrssystem – und verspürt nicht das Bedürfnis, ein Auto zu besitzen, oder er hat ein Auto in einem guten technischen Zustand, das immer für eine 500 km lange Autofahrt bereit ist. Iwan Iwanowitsch Iwanow mag, technisch gesehen, ein Auto besitzen, einen 30 Jahre alten Schiguli (er braucht es, um Kartoffeln zu transportieren, die er auf dem kleinen Stück Land für sich selbst anbaut – er nennt es stolz eine Datscha; es ist kein Hobby, es ist eine Notwendigkeit), aber er würde es nicht wagen, die 100 km in die nächste Stadt zu fahren.

Das ist in Ordnung, denn die Autobahn existiert auch größtenteils in der Theorie. Die russische Sprache hat eine Reihe von Redewendungen und Ausdrücken, die verwendet werden, um Objekte, Personen und Institutionen zu beschreiben, die nicht wirklich vorhanden sind, aber in Statistiken aufgeführt sind - „Potemkinsche Dörfer“, „Roitschwantz-Kaninchen“, „Pokazukha“, „Die toten Seelen“ usw .

Bodenfähre, die Autos durch einen Abschnitt der Autobahn transportiert, der nur theoretisch existiert (Quelle: English Russia)

Du kannst Russland nicht verstehen, wenn du dies nicht verstehst. Viele Menschen im Westen stellen Fragen wie: Wo ist der hochmoderne Panzer T-14 Armata? Wo ist die russische Antwort auf F-22 Raptor, mächtige Suchoi Su-57? Wo ist das Supersoldat-Exoskelett Ratnik? Warum scheint Russland, anstatt sie in die Schlacht zu schicken, Panzer einzusetzen, die sogar älter sind als ich?

Einige Leute glauben immer noch, dass Russland Millionen von modern ausgerüsteten Soldaten hat. Sie werden irgendwo versteckt, wo die NATO-Satelliten sie nicht sehen können. Nach 13 Monaten großangelegten Invasion haben sie sich einfach nicht entschieden, diesen Vorteil zu nutzen. Schließlich „sie haben noch nicht angefangen“. Das liegt an … [Einsatz von einem unzusammenhängenden Gemurmel eines selbsternannten Experten, der nicht einmal Russisch spricht].

Wer Russland kennt, weiß auch, dass die russische Kleptokratie alles – einschließlich der Armee – in eine gigantische „Pokazucha“ verwandelt hat. Es ist eine Million toter Seelen in Roitschwantz-Panzern und Potemkin-Flugzeugen.

Wenn sie in den staatlichen Registern eingetragen sind, gibt es auch ein Budget für ihren Unterhalt. Jemand hat dieses Geld eingesteckt (und steckt es immer noch ein), aber das meiste von diesem „Pokazucha“ hat überhaupt nie existiert. Oder es war bestenfalls wie bei Iwanows Auto: Es existiert, nur fährt nicht zu weit. T-14 und Su-57 sehen auf Paraden cool aus, nimm sie nur nicht mit in den richtigen Kampf.

Korruption gibt es auch im Westen, also denken viele, dass es in Russland mehr oder weniger ähnlich ist - wir haben Bestechung und zwielichtige Absprachen unter dem Tisch, aber die Straßen werden im Allgemeinen gebaut, das fließende Wasser fließt tatsächlich und die Armee bekommt ihre tödlichen Spielzeuge. Es ist ein Fehler, so über Russland zu denken: Bestechungsgelder garantieren dort kein Ergebnis, aber wenn du keins gibst, kannst du Probleme bekommen.

Wenn du in deinem westlichen Badezimmer fließendes Wasser hast, liegt das daran, dass dein Bürgermeister wiedergewählt werden möchte. Wenn dein Kühlschrank leckere Dinge kühlt, liegt das daran, dass der Gerätehersteller (und der örtliche Lebensmittelhändler) dir Sachen verkaufen möchte. In Russland ist das nicht so.

Im September 2022 lief in Russland eine Reihe von Rekrutierungspropagandavideos. Ihre Botschaft war: „Das Leben in Russland ist sowieso die Hölle, also warum nicht zur Armee gehen, was hast du zu verlieren?“.


Standbild aus einem russischen Rekrutierungsvideo (Quelle: Dmitri/Wartranslated)

In einem von ihnen kauft ein russischer Opa Lebensmittel in einem Lebensmittelgeschäft ein (achte darauf, wie schlecht die Auswahl dort ist - viel Glück, wenn du dort deine Lieblingsleckereien finden wolltest!). Er kann sich nicht einmal die grundlegendsten Dinge leisten. Er ist verzweifelt genug, um seinen letzten Gegenstand von Wert zu verkaufen: das Schiguli-Fahrzeug, das er in den 1980er Jahren für seinen Dienst in Afghanistan bekam. In letzter Minute hält ihn sein Enkel auf – er tritt der Armee bei! So wird es endlich Geld geben!

Auch das Leben in der Ukraine ist kein Paradies. Aber je westlicher sie werden, desto besser wird ihre Lebensqualität. Es hat bereits begonnen. Sie wollen hart daran arbeiten, ihre Lebensqualität auf die EU-Standards anzuheben, so wie wir – ihre Nachbarn – es im letzten Jahrzehnt getan haben.

Fragen Sie pro-russische Freunde: Wer hat das Recht, es ihnen zu verweigern? Elon Musk? Noam Chomsky? Clare Daly?

Russland kämpft darum, seine Hölle auf die ganze Welt zu verbreiten. Deshalb ist der Vergleich mit Mordor und Orks gar nicht so weit hergeholt.

„Du wirst lachen, aber die Polizei von Cherson hat unsere Freiwilligenfahrzeuge genommen“, so beginnt Roman Saponkov seine Geschichte. Er hatte Recht, ich lachte (Quelle: RSaponkov auf Telegram)

Kürzlich beschwerte sich ein russischer Militärblogger, Roman Saponkow, in den sozialen Medien darüber, dass die Lieferwagen, mit denen er Nachschub an russische Soldaten lieferte, von der „Polizei“ der Separatisten gestohlen wurden. Beachten Sie, dass die „Annexion“ ebenfalls nur theoretisch stattfand: Die besetzten ukrainischen Gebiete funktionieren immer noch nicht als Teil des eigentlichen Russlands. Russische Zivilzüge fahren dort nicht, russische Polizei operiert dort nicht, man kann die Grenze nicht ohne Pass überqueren (auf dem Papier ist die Grenze theoretisch verschwunden, aber in der Praxis gibt es noch Grenzübergänge).

Zum Zeitpunkt des Schreibens konnte Saponkow seine Autos immer noch nicht zurückgewinnen. Das ist Russland: Wenn die Polizei dein Auto stehlen will, nehmen sie es einfach. Es spielt keine Rolle, wer Recht oder Unrecht hat, was zählt, ist, wer wen töten kann.

„Meuterei-Videos“ sind in letzter Zeit ein häufiges Phänomen in der russischen Armee. Dieser ist selbst für russische Verhältnisse besonders schockierend. Die Soldaten aus Wodjane enthüllen, dass ihre Kommandeure den Krieg als Mittel der Erpressung benutzen: Zahle 20.000 Rubel oder du wirst auf ein Selbstmordkommandoeinsatz geschickt. Wenn du nicht zahlst, wirst du ohne Behandlung aus dem Krankenhaus geholt – und zurück in den Kampf geschickt. Denkst du, dass die Metapher von Teufeln, die die Hölle verbreiten, zu weit hergeholt ist? Quelle: Dmitri/Kriegsübersetzt.

Das hält Saponkow nicht davon ab, fanatisch pro-russisch zu sein. Je mehr er leidet, desto eifriger ist er, uns allen die russische Hölle aufzuzwingen. So funktioniert Russland.

Ich hoffe, mein lieber westlicher Leser, dass du klüger bist.

 

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Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (10) – Der Mythos eines Putsches von 2014 in der Ukraine.

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/the-myth-of-a-2014-coup-in-ukraine

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Der Mythos eines Putsches von 2014 in der Ukraine.

Wenn Selenskyj „von der CIA installiert“ wurde, wer hat dann Poroschenko installiert? MI6?

Ich widerstehe heldenhaft der Versuchung, noch einmal Roger Waters zu zitieren (ich schenke ihm eindeutig zu viel Aufmerksamkeit). Um also ein Beispiel für einen anderen Mythos zu liefern, den ich entlarven möchte, habe ich den ersten Tweet verwendet, den ich nach der Eingabe von „Zelensky coup“ erhalten habe.

Der Text lautet: "Die Ukraine ist eine ekelhaft korrupte Nation. Selenskyj wurde 2014 als Marionette bei einem von den USA unterstützten Putsch installiert."

2014 war Selenskyj noch nicht einmal Politiker. Er wurde im April 2019 als Überraschungskandidat gewählt (ähnlich wie Ronald Reagan war er als Schauspieler bekannt, aber nicht als Anführer).

Also wer genau war diese „von den USA installierte Marionette“? Vielleicht Selenskyjs Vorgänger, Amtsinhaber Petro Poroschenko? Nö. Er wurde im Mai 2014 gewählt, 3 Monate nach dem angeblichen „Putsch“.

Wenn jemand durch den „Putsch“ „installiert“ wurde, dann war es der amtierende Interimspräsident Oleksandr Turtschynow. Für eine amerikanische „Marionette“ war es kein besonders interessantes Puppenspiel: Er erfüllte seine Hauptaufgabe: vorgezogene Wahlen zu organisieren, demokratische Verfahren wiederherzustellen und sein Land aus der Verfassungskrise von 2014 zu führen.

Es besteht kein Zweifel, dass Amerika in seiner Geschichte tatsächlich einige Putsche angezettelt und einige echte Marionetten wie Pinochet, Somoza oder Batista installiert hat. Aber wir werden uns alle einig sein, dass die Geschichte Lateinamerikas viel glücklicher verlaufen wäre, wenn sich diese Marionetten wie Turtschynow verhalten hätten – indem sie sich nach den demokratischen Neuwahlen leise zurückgezogen hätten.

Politik ist keine Mathematik, es gibt keine strengen Definitionen. Konzepte wie „Staatsstreich“, „Revolution“, „Bürgerkrieg“, „erzwungener Rücktritt“ und „Misstrauensvotum“ haben eine riesige Grauzone, in der sie sich überschneiden. Vor allem, wenn alles vor dem Hintergrund gewaltsamer Unruhen passiert.

Wurde Charles de Gaulle durch einen faschistischen Staatsstreich installiert? Diese Jungs scheinen das zu glauben! (Foto: Jean Tesseyre / Getty Images)

Beispielsweise wurden im Mai 1958 in Frankreich während gewaltsamer Unruhen (mit mehreren Todesopfern) nachfolgende Regierungen zum Rücktritt gezwungen. General Charles de Gaulle wurde Premierminister mit außerordentlicher Vollmacht und im Januar 1959 zum Präsidenten gewählt.

War das ein Staatsstreich? Natürlich benutzten de Gaulles politische Rivalen dieses Wort gerne. 1964 verfasste Francois Mitterand einen berühmten Essay „Permanent coup d’etat“, in dem er dem gaullistischen System vorwarf, grundsätzlich antidemokratisch zu sein. Als er 1981 schließlich Präsident wurde, vergaß er natürlich alles und setzte diesen „permanenten Putsch“, was auch immer das heißen mag, fort.

1974 musste Richard Nixon aufgrund des Watergate-Skandals sein Amt niederlegen. Seine Präsidentschaft wurde von zivilen Unruhen überschattet, auch mit Opfern. War es ein Staatsstreich?

Natürlich wird man auch Leute finden, die Watergate „einen Coup“ nennen. Ich schätze, bei jedem Regierungswechsel werden wir mindestens einen verärgerten Politiker finden, der behauptet, es sei „ein Putsch“ gewesen.

Lasst mich mich daher einen einfachen Vorschlag machen: *WENN* es nach einem Regierungswechsel demokratische Verfahren gab, die weitere Regierungswechsel erlaubten, war es *KEIN* Staatsstreich. Ohne dieses Kriterium müssten wir jeden Regierungswechsel als Staatsstreich bezeichnen, zum Beispiel: die Ablösung von Liz Truss durch Rishi Sunak.

Ich bin vielleicht kein großer Fan von Rishi Sunak, aber ich würde ihn nicht in die gleiche Schublade wie Pinochet stellen. Würdest du es tun?

Die ukrainische Demokratie ist vielleicht nicht perfekt … aber ist sie in deinem Land perfekt? Ich denke, die einzigen Länder, in denen die Demokratie vollkommen und absolut perfekt ist, sind Diktaturen wie die Demokratische Republik Nordkorea. Die Leute sind dort so glücklich, dass der Amtsinhaber immer 100% der Stimmen bekommt.

Hier ist ein weiterer einfacher Vorschlag: Das Hauptkriterium der Demokratie ist die Möglichkeit, die Regierung durch Wahlen zu wechseln. Wer sie nicht hat, hat keine Demokratie. Nach diesem Kriterium sind Weißrussland und Russland Diktaturen (genauso wie Nordkorea), während die Ukraine eine Demokratie ist. Vielleicht eine fehlerhafte (wie in deinem Land und auch in meinem Land), OK, aber immer noch eine Demokratie.

Was ist also 2014 passiert? Hier ist mein Verständnis der Revolution der Würde.

Es stimmt, dass der gestürzte Präsident Wladimir Janukowitsch „demokratisch gewählt“ wurde. So waren auch alle ukrainischen Präsidenten vor ihm und nach ihm.

Es wäre nicht der einzige Fall, in dem ein demokratisch gewählter Präsident aufgrund seiner unpopulären Entscheidungen mit Gegenreaktionen konfrontiert würde. Emmanuel Macron sieht sich derzeit in Frankreich mit solchen Gegenreaktionen konfrontiert, und dies könnte zu seinem Rücktritt führen (so wie de Gaulle schließlich 1969 zurücktrat).

Er wurde auf der Plattform der Partei der Regionen gewählt, die als „pro-russisch“ bezeichnet wurde, aber 2010 bedeutete dies einfach die Dezentralisierung des Landes und die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Russland, während er eine allgemein pro-westliche Politik verfolgte.

Ein Element dieser Politik, das auf der anderen Seite des großen Teichs oft übersehen wird, war die gemeinsame Ausrichtung der UEFA-Fußball-Europameisterschaft 2012 durch die Ukraine und Polen. Das ominöse Motto lautete „Gemeinsam Geschichte schreiben“.

Donbass Arena – eines der Stadien, die für die UEFA-Meisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine gebaut wurden (Foto: Shutterstock)

Dieses gemeinsame Bemühen führte zu viel gegenseitiger Berichterstattung in ukrainischen und polnischen Medien. Wie geht es ihnen mit dem Bau von Stadien, Autobahnen, Flughafenterminals und Bahnhöfen? Wie schneiden sie im Vergleich zu uns ab? Polnische Medien interessierten sich für den Verlauf der Dinge im Donbass, ukrainische Medien widmeten die gleiche Aufmerksamkeit dem Verlauf der Dinge in Schlesien.

Während alle postsowjetischen Nationen 1990 in etwa von der gleichen Entwicklungsstufe aus gestartet sind, befanden wir uns 2012 in unterschiedlichen Universen. Die polnische pro-westliche Linie trug ihre ersten Früchte. Wir näherten uns schließlich der Lebensqualität westlicher kapitalistischer Länder.

Es mag nicht nach viel klingen, aber 1990 schien es Mission: Impossible zu sein. Ich persönlich hätte nie gedacht, dass ich das erleben würde.

Bevor wir 2004 der EU beitraten, befanden wir uns in einer Übergangsphase, in der viele Politiker behaupteten, dass der EU-Beitritt eine Katastrophe sein würde. Das war nur Mist, und 2010 war es bereits für fast jeden offensichtlich.

In der Ukraine waren Politiker, die sagten: „Nicht der EU beitreten, dort gibt es nichts Gutes für uns“, 2010 noch ziemlich populär. Aber 2012 wusste jeder, der die Medienberichterstattung über die UEFA-Meisterschaften verfolgte (was bedeutet: wirklich jeder), dass dies Unsinn ist. Für die ukrainische Gesellschaft war es eine große Chance zu sehen, wie es ihren Nachbarn geht.

Sie wussten, dass wir 1990 den gleichen Ausgangspunkt hatten, und sie sahen, wie viel Polen erreicht hatte. Sie wollten nun dasselbe für die Ukraine.

(Standbild aus einem Video aus reddit)

Und was hat Russland zu bieten? Nichts als Armut und Unterdrückung. In der Anfangsphase der Invasion äußerten die russischen Besatzer häufig ihre Verwunderung darüber, dass in der Ukraine „in jedem Haus ein Laptop steht und Nutella gegessen wird“.

In einem abgehörten Telefonat beschrieb ein russischer Soldat, wie er ukrainische Häuser plünderte. Er brachte seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass sie selbst auf dem ukrainischen Land „in Backsteinhäusern leben“, „hochwertige Kosmetika" verwenden und „Markenkleidung tragen“, die „Modernisierung ist einfach erstaunlich“. "Unsere Tochter geht zur Schule, sie braucht einen verdammten Laptop, klaue einen für sie" - erinnerte seine Frau.

Putin kann sich die Existenz einer wohlhabenden Ukraine nicht leisten. Seine eigenen Sklaven werden irgendwann Fragen stellen, wie „Warum können wir nicht auch in jedem Haus einen Laptop haben?“.

Wenn du ein Oligarch bist, ist die Oligarchie natürlich das beste System für dich. Also glaube ich ihnen, wenn Solowjow, Simonjan oder Skabeyeva sagen, dass Russland perfekt für sie ist (aber es erklärt immer noch nicht, warum Solowjow im nationalen Fernsehen in Tränen ausbrach, als er um seine beschlagnahmte italienische Villa dachte).

Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn Sie das durchschnittliche Leben einer durchschnittlichen Person in einem durchschnittlichen Haushalt mit einem durchschnittlichen Einkommen in einer durchschnittlichen Nachbarschaft führen, es selten besser ist als im Europäischen Wirtschaftsraum (d. h. in der EU und den assoziierten Ländern). Vielleicht in Japan, vielleicht in den USA – aber definitiv nicht in Russland oder seinen Marionettenstaaten.

Die Partei der Regionen war voll von Politikern mit persönlichem Interesse an Russland. Das war damals akzeptabel, im Westen sogar üblich. Auch Gerhard Schröder war damals in Deutschland eine respektable Person.

Also begannen Putin und seine Oligarchen, Druck auf Janukowitsch auszuüben, damit er den allgemeinen Konsens über eine Pro-EU-Haltung (die mehr oder weniger  von allen ukrainischen Mainstream-Parteien akzeptiert war) aufgibt. 2013 war die Ukraine bei den Verhandlungen über das Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit der EU ziemlich weit fortgeschritten – der erste Schritt auf dem Weg zur Mitgliedschaft. Im Februar wurde das Abkommen mit überwältigender Mehrheit im Parlament angenommen (315 von 349 Sitzen).

Am 21. November 2013 kündigte Janukowitsch gegen den Willen des Parlaments (das von seiner eigenen Partei dominiert war!) den Rückzug der Ukraine aus den Verhandlungen mit der EU an. Am selben Tag veröffentlichte der ukrainische Journalist Mustafa Nayeem einen schicksalhaften Post in den sozialen Medien. Unten finden Sie das Original (es ist auf Russisch – so viel zum Thema „Russisch sprechend“ gleich „pro-russisch“).

Ausschnitt aus Facebook

In meiner Übersetzung: „OK, lass uns ernst werden. Wer ist bereit, heute vor Mitternacht zum Maidan-Platz zu gehen? Likes zählen nicht. Kommentiert nur „Ich bin bereit“ unter diesem Beitrag. Wenn wir mehr als tausend sind, fangen wir an, uns zu organisieren.

Anfangs forderten die Demonstranten Janukowitsch friedlich auf, das Abkommen mit der EU zu unterzeichnen – oder zurückzutreten. Er reagierte mit Gewalt, was mehr Gewalt erzeugte, was zu Opfern auf beiden Seiten führte. Zum ersten Mal in der Geschichte kämpften Menschen unter der EU-Flagge (und starben dafür).

Foto: euromaidan-press

Da Janukowitsch seine verfassungsmäßigen Befugnisse deutlich überschritten hatte, begann das Parlament über Amtsenthebungsverfahren zu sprechen. Seine eigene Partei verleugnete ihn, also war klar, dass er in dem Verfahren keine Chance hat.

Am 21. Februar unterzeichnete Janukowitsch schließlich ein Abkommen über eine vorläufige Beilegung der Krise, das vorgezogene Neuwahlen und eine vorläufige Regierung der nationalen Einheit vorsah. Am selben Tag brach er diese Vereinbarung, indem er nach Russland überlief.

Er hinterließ keinen formellen Rücktritt, wahrscheinlich in der Absicht, eine Gesetzeslücke zu hinterlassen, die sich als nützlich erweisen könnte, wenn die russische Armee einmarschiert. Sie würden ihn einfach wieder in den Präsidentenpalast in Kiew einsetzen – wenn sie nur Kiew erobern könnten.

Tatsächlich begann die Invasion von „Grünen Männchen“ – Paramilitärs in russischen Uniformen ohne Auszeichnung, die offiziell aus dem Nichts kamen (laut russischer Propaganda: „Sie können diese Uniformen in jedem Überschussgeschäft kaufen“) – nur eine Woche später, am 27. Februar.

Krim, 28. Februar 2014: Nicht identifizierte Paramilitärs, die aus einem nicht identifizierten Land kamen, russische Uniformen und russische Waffen tragen und vorgeben, Ihre freundlichen einheimischen lokalen Separatisten zu sein. Foto: Elizabeth Arrott / VOA

Die Invasoren erreichten Kiew bis heute nicht, aber sie verkündeten die „Unabhängigkeit“ der Krim (16. März) und des Donbass (6. April). Dies ist jedoch eine andere Geschichte.

Ich erwähne die CIA nicht in meiner Beschreibung der Revolution der Würde, weil ich ehrlich gesagt nicht glaube, dass sie eine wichtige Rolle gespielt hat. Ohne die spontane Reaktion der Bevölkerung auf den einseitigen Rückzug Janukowitschs aus den Verhandlungen mit der EU wäre nichts passiert.

Leute, die über den Putsch der CIA sprechen, liefern niemals wirkliche Beweise, um diese Behauptung zu untermauern. Sie schweifen entweder ab und sprechen über tatsächliche, von der CIA unterstützte Staatsstreiche in Lateinamerika (ich bestreite nicht, dass sie stattgefunden haben!), oder sie liefern einen „rauchenden Colt“ wie „Victoria Nuland unterstützte die Revolution“.

Nun, ich habe sie auch unterstützt. Viele Leute taten es. Ich beziehe mich auf den Willen der durchschnittlichen Ukrainer, wie die durchschnittlichen Westeuropäer zu leben. Meine Generation hat diesen Traum in Polen verwirklicht, ich wünsche es auch unseren Nachbarn.

Im Moment haben wir Proteste in Georgien. Ihr Volk ist mit ihrer demokratisch gewählten Regierung wegen ihrer pro-russischen Haltung unzufrieden.

Ich weiß, dass es Leute gibt, die immer sagen werden: „Es ist überall die CIA“. Aber ich greife mal nach Ockhams Rasiermesser: Viel einfacher ist es anzunehmen, dass Millionen von Menschen in Georgien oder der Ukraine (und 1989: Polen, Litauen, DDR etc.) einfach lieber Nutella sich leisten können wollten.

Ja, ich weiß, Nutella ist ungesund. Aber es ist eine ganz andere Geschichte, so viel davon kaufen zu können, wie man will, es aber nicht zu tun, weil es nicht gesund ist – oder sich einfach kein einziges Glas Nutella leisten zu können. Der durchschnittliche Pole in meinem Alter hat all diese Stadien von Nutella durchlaufen: von der kostbaren Delikatesse, die nur den dekadenten Bourgeois im Westen zur Verfügung steht, bis zum langweiligen Grundnahrungsmittel ungesunder Ernährung. Der durchschnittliche Russe ist da, wo er 1989 war.

Um anzunehmen, dass die Revolution der Würde (und andere antirussische Bewegungen in unserer Region) „CIA-Coups“ sind, muss man davon ausgehen, dass Millionen von Ukrainern (Polen, Georgier usw.) durch Hypnosestrahlen von geheimen Satelliten telepathisch einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Also DENKEN wir nur, dass wir nach EU-Standards leben wollen: anständige Autos  zu fahren (oder noch besser! die bequemen öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen!), anständige Kleidung zu tragen, anständiges Essen zu essen.

Leider werden wir von der CIA-induzierten Hypnose getäuscht! Eigentlich sollten wir lieber lauwarmen Wodka trinken, Fufaika tragen und Mist essen, weil wir die dekadenten bürgerlichen Kloschüsseln auch nicht brauchen.

Russischer Propagandist spottet über EU-Sanktionen für den Export von Toilettenschüsseln nach Russland. „Sie denken wahrscheinlich, dass wir ohne sie nicht leben können!“. Genosse, natürlich wissen wir, dass ihr es könnt und ihr es tun, aber wir wissen, dass euch der Arsch auf Grundeis geht - entschuldigt das Wortspiel. Ihr könnt Überschall-Marschflugkörper bauen und scheißt trotzdem in Plumpsklo draußen… (Bildschirme aus Video mit Untertiteln von Julia Davies)

Und lasst mich wiederholen: Die russische Welt hat nichts Besseres zu bieten für Ihren durchschnittlichen Iwan Iwanowitsch Iwanow, aus einer durchschnittlichen russischen Stadt in der sogenannten „Glubinka“ (wörtlich: „tiefes Territorium“). Sein Leben ist die Hölle. Und gerade jetzt kämpft er dafür, diese Hölle auf die Ukraine auszudehnen.

Jeder bevorzugt den westlichen Lebensstil. Sogar die pro-russischen Westler.

Sie sind meine Lieblingssorte. Es gibt keinen besseren Ort, um Russland zu preisen, als eine komfortable Eigentumswohnung in, sagen wir, Berlin oder Madrid.

Sie können dort sitzen, Jamon Iberico mit einem frischen Baguette und griechischen Oliven essen, guten italienischen Wein schlürfen und Ihr mit Villeroy & Boch ausgestattetes Badezimmer genießen. Und sie tippen auf Ihrem koreanischen Laptop, der mit amerikanischen sozialen Medien verbunden ist, das Lob Russlands ein.

All diese pro-russischen Westler würden es auf die Straße bringen, sollten ihre Regierungen versuchen, die Lebensqualität von Iwan Iwanowitsch Iwanow zu erzwingen. Und natürlich, wenn sie es im Westen tun, ist es gelebte Demokratie. Wenn es in Frankreich ist, ist es „la revolution“. Aber in anderen Regionen ist es nur ein offensichtlicher Coup.

 

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Betreff:

Kategorie:Ostklärung

Kommentar

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (9) – Wer hat den Frieden getötet?

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/who-killed-peace

------------------- Anfang des Gastbeitrages -------------------

Wer hat den Frieden getötet?

Was ist mit den russisch-ukrainischen Verhandlungen passiert?

Roger Waters teilt sein Expertenwissen mit Olga Selenska (na ja, was weiß sie schon? Sie ist nur eine Frau aus Osteuropa…). Aus rogerwaters.com

Ich nehme noch einmal Roger Waters als Beispiel für einen ahnungslosen Westler. Er ist ein feines Exemplar mit einer durchsuchbaren Datenbank von groben Fehlern, also warum weiter suchen?

Hier ist ein weiterer Mythos, den ich entlarven wollte. In Roger Waters’ eigenen Worten ist es der Mythos von Selenskyj, der sich offenbar weigert, mit Putin über Frieden zu verhandeln.

Das Friedensabkommen war im April so nah, und doch brach die Ukraine aus irgendeinem seltsamen Grund die Verhandlungen ab! Dies lag wahrscheinlich an Boris Johnsons Besuch in Kiew (Version A) oder an amerikanischem Druck (Version B - Waters scheint letzteres zu bevorzugen).

Konfrontieren wir diesen Mythos mit Fakten.

Aus dem Online-Archiv der „Prawda“

Oben findet man einen Ausschnitt aus der Website der russischen Zeitung „Prawda“. Es ist der erste Tag der Invasion.

Die Überschrift lautet: „Selenskyj: DER WESTEN VERRIET UND VERLIESS UKRAINE. WIR SIND BEREIT, MIT RUSSLAND ZU VERHANDELN. Präsident Wladimir Selenskyj machte den Westen dafür verantwortlich, dass er die Ukraine allein gegen Moskau gelassen habe, und erklärte heute, dass er keine Angst habe, über ein Ende der russischen "Invasion" zu verhandeln, aber er brauche Sicherheitsgarantien”.

Dies ist eine leicht verdrehte, aber nicht ganz unwahre Zusammenfassung einer der frühen Reden von Selenskyj. Im Westen erinnern wir uns hauptsächlich an die historischen Sätze wie „Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition“.

Einige Leute im Westen (Roger Waters zum Beispiel) vergaßen, dass der Westen Selenskyj in der Anfangsphase der Invasion lediglich politisches Asyl anbot. Lieferungen von offensiven Waffen gab es nicht. Deutschland hat bekanntlich/berüchtigt nur 5000 Helme geliefert, aber alles Tödliche wurde als „Überschreitung einer roten Linie“ angesehen und rundweg abgelehnt.

Viele westliche Politiker waren sich sicher, dass „Kiew in 3 Tagen fallen wird“, weil sie ihr ganzes Leben lang gehört haben, dass „Russen nicht verlieren können“. Sie hielten es ehrlich für sinnlos, Waffen an die Ukraine zu liefern, denn selbst wenn sie vor der Eroberung Kiews eintreffen, werden sie in russische Hände enden, wie in Afghanistan oder den Irak.

Dies ist ein weiteres Beispiel für etwas, das ich zuvor geschrieben habe: Es gibt einen großen Unterschied zwischen der „Inlands“- und der „Export“-Version der russischen Propaganda. Sie widersprechen sich oft, so wie in diesem Fall.

Die „Export“-Version – entworfen, um Elon Musk und Noam Chomsky zu täuschen – ist fast unverändert: „Der Westen hat den Krieg provoziert, indem er die Ukraine durch Waffenlieferungen bewaffnet und Selenskyj verboten hat, über Friedens- und Sicherheitsgarantien für Russland zu sprechen“. Die „heimische“ Version im Februar 2022 lautete: „Der Westen hat die Ukraine verlassen, Selenskyj bittet um Friedensgespräche, aber wir sind nicht daran interessiert, mit ihm zu sprechen – wir werden in wenigen Tagen gewinnen“.

Am vierten Tag der Invasion musste sogar Putin widerwillig zugeben, dass er es nicht geschafft hatte, Kiew in drei Tagen einzunehmen. Der ursprüngliche Plan – wie wir aus erbeuteten russischen Dokumenten wissen – ging davon aus, dass die Spezialeinheiten und Fallschirmjäger in den ersten Stunden des Kampfes wichtige Infrastruktur sichern würden, damit die mechanisierte Infanterie, die auf dem Landweg eintrifft, das Gebiet einfach säubern würde.

Dies ist nicht geschehen. Speznas drang in einige Städte wie Charkiw ein, hauptsächlich um von irregulären Truppen getötet zu werden, die mit Jagdgewehren und Molotowcocktails bewaffnet waren. Luftlandetruppen wurden von MANPADs vom Himmel geschossen.

Die mechanisierte Infanterie war bereits durch Panzerabwehrraketen beschädigt, und als sie ankam, konnten sie die Spezialtruppen von der ukrainischen Belagerung befreien, aber sie waren nicht in der Lage, Kiew oder Charkiw tatsächlich zu belagern (geschweige denn das Gebiet zu erobern). Aber auf einer Karte schien es immer noch, dass der russische Sieg nur eine Frage von Tagen ist – russische Panzer waren nur wenige Kilometer von Selenskyjs Hauptquartier entfernt.

Also selbst wenn Putin bereit war zu reden, war seine Vorstellung von Frieden „bedingungslose Kapitulation“. Er weigerte sich, persönlich mit Selenskyj zu sprechen – sein Chefunterhändler entpuppte sich als ein gewisser Wladimir Medinski. Es ist in Ordnung, wenn dieser Name bei Ihnen nicht klingelt. Er ist Putins Adjutant von niedrigem Rang und es ist zweifelhaft, ob er überhaupt direkten Kontakt mit dem Tyrannen hat.

Ich denke, sogar Herr Roger Waters sollte dieses Grundprinzip verstehen: Wenn – sagen wir – eine Plattenfirma einen Praktikanten schickt, um den Vertrag zu „verhandeln“, wollen sie überhaupt nicht verhandeln. Dies ist ein „Nimm es oder lass es“-Deal.

Manchmal ist es einfach besser, es zu lassen. Während das Hauptziel der Ukraine bei den Verhandlungen ein Waffenstillstand war, forderte Medinskis Team die bedingungslose Kapitulation. Das war einfach unrealistisch: Zu keinem Zeitpunkt des Krieges war Russland siegreich genug, um dies zu fordern. Ja, sie hatten ihre Truppen in der Nähe von Kiew, aber sie konnten sich kaum behaupten, geschweige denn vorrücken.

Die Verhandlungen fanden zuerst in Weißrussland, dann online, dann in der Türkei statt. Sie haben nicht viel gebracht (mit Ausnahme einiger „Evakuierungskorridore“ für Zivilisten in belagerten Städten). Die Ukraine war bereit, über Neutralität zu diskutieren, aber ihre Hauptforderung war ein Waffenstillstand. Medinsky war nicht befugt, darüber zu diskutieren (oder – ehrlich gesagt – über so ziemlich alles Sinnvolle zu diskutieren).

„Medinski ist bei den Verhandlungen gescheitert. Die Ukraine feiert den Sieg, während Russland in Panik oder zumindest in Aufruhr ist“, erklärt Lyudmila Chertkova in „Prawda“ (aus dem Online-Archiv).

Ende März beschleunigten sich die Dinge plötzlich. Medinski sagte öffentlich, Russland sei bereit, einige Zugeständnisse zu machen – „kleine Schritte zur Deeskalation“. Dies wurde von den russischen Medien und russischen Politikern mit enormer Feindseligkeit aufgenommen.

Was für ein „Rückschritt“? Warum zurücktreten, wenn wir gewinnen? Zu diesem Zeitpunkt begann Russland jedoch, sich stillschweigend von seinen unhaltbarsten Positionen zurückzuziehen. Es war der allerletzte Moment, um zu sagen: „Ergibt euch, weil unsere Truppen in der Nähe eurer Hauptstadt sind“.

Aus dem Online-Archiv der „Prawda“

Einer der lautstärksten Kritiker von Medinski war Ramsan Kadyrow, der von Russland ernannte Marionettenführer des befriedeten Tschetscheniens. In der Schlagzeile der Prawda wird er mit den Worten zitiert: „Russland braucht keinen Rückzug!“. Damals war er damit beschäftigt, so zu tun, als sei er in die Ukraine gereist, um persönlich dafür zu sorgen, dass Russland schnell gewinnt.

Der Ton der russischen Propaganda wechselte zu dem Schlagwort „Sie haben nicht auf Medinski gehört, jetzt werden sie auf Kadyrow hören“. Im April glaubten die russischen Propagandisten noch an einen schnellen Sieg – Kadyrow wird ihn bringen, sobald er sein Gebet an einer Tankstelle beendet hat.

Ramsan Kadyrow gibt vor, in der Ukraine zu sein - er befindet sich aber auf einer Rosneft Tankstelle, und solche gibt es in der Ukraine nicht. (aus Twitter)

Der Rückzug aus Kiew führte zu der grausamen Enthüllung schrecklicher Kriegsverbrechen, die von Russen in den Vorstädten begangen wurden. Sie versuchten nicht einmal, ihre Spuren zu verwischen, weil sie sich niemals zurückziehen sollten. Selenskyj erklärte an dieser Stelle, er habe mit Kriegsverbrechern nichts zu besprechen.

Der Besuch von Boris Johnson in Kiew konnte die Dinge nicht schlimmer (oder besser) machen. Die Friedensgespräche waren bereits tot. Russland sagte: „Wir brauchen keine stinkenden Friedensgespräche, wir gewinnen“. Die Ukraine war wie „wir reden nicht mit Kriegsverbrechern“.

Im Gegensatz zu dem, was Roger Waters denkt, waren die westlichen Führer damit beschäftigt, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Es schien nur vernünftig, da keine Seite einen entscheidenden Sieg erringen konnte.

Putin erhielt zahlreiche Anrufe und Besuche von Macron, Scholz, Erdogan, Gutteres (UN-Generalsekretär), Nehammer (österreichischer Bundeskanzler) und anderen. Sie haben zu nichts geführt. Putin betonte dennoch, er erwarte von der Ukraine nichts als eine bedingungslose Kapitulation.

Im Mai zog Lawrow seinen „betrunkenen Onkel“-Stunt ab, indem er behauptete, „Hitler war jüdisch“. Das war ein echter Gesprächsstopper. Wie kann man damit verhandeln? Macron und Scholz versuchten es trotzdem, gaben aber schließlich auf.

Im September kündigte Russland die „Annexion“ der Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk an. Es war wahrscheinlich die erste „Annexion“ dieser Art in der Geschichte – ich kann mir kein anderes Land vorstellen, das Gebiete „annektiert“, ohne sie tatsächlich zu kontrollieren. Im Fall von Saporischschja kontrollierten sie nicht einmal die Stadt Saporischschja. Im Fall von Cherson gaben sie innerhalb von zwei Monaten auf und hinterließen Dutzende Plakate mit der Aufschrift „RUSSLAND IST HIER FÜR IMMER“.

“Russland ist hier für immer” Plakat in Kherson (aus ukraineworld.org)

Die aktuelle russische Verhandlungsposition ist, dass die „Annexionen“ respektiert werden müssen. Es bedeutet: Die Ukraine muss sich kampflos aus Cherson, Saporischschja, Kramatorsk usw. zurückziehen. Warum sollten sie das tun wollen?

Um das Blutvergießen zu stoppen? Aber können Sie sich vorstellen, dass die russische Armee OHNE Blutvergießen in Saporischschja oder Kramatorsk einmarschiert? Ich kann nicht. Sich der russischen Besatzung zu unterwerfen bringt keinen Frieden, es bringt Gemetzel, Raub, Vergewaltigung, Zwangsumsiedlungen und Völkermord.

Weitere Bedingungen sind die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine. Ersteres bedeutet „deine Armee auflösen“. Letzteres bedeutet „Ändere die Regierung zu derjenigen, die Russland gefällt“. Dazu müssten aber auch die freien Wahlen in der Ukraine abgeschafft werden - wegen des Krieges haben prorussische Politiker bei den Präsidentschaftswahlen etwa die gleiche Chance wie der sozialistische Kandidat für das Gouverneursamt von Texas.

Mein Lieblingsteil der russischen Propaganda ist, wenn der Propagandist von seiner Fantasie so weit mitgerissen wird, dass er sie mehrstimmig auslebt. In diesem Fall begann Sergey Mardan zu phantasieren, wie russische Diplomaten einen Diplomaten aus Lettland schlagen sollten. Mardan scheint zuzugeben, dass man mindestens drei Russen braucht, um einen Letten zu schlagen, und dann begann er zu spielen, wie sich diese Szene entwickeln würde. „Gefällt es dir nicht? Das bekommst du, wenn du Russland beleidigst!“. Genau wie die Eroberung von Kiew ist es natürlich nie wirklich passiert (über den Twitter-Account von Kremlin Yap).

Ich bin für Frieden. Aber nichts deutet darauf hin, dass Putin bereit ist, über einen Waffenstillstand zu diskutieren – oder seine unrealistischen Forderungen aufzugeben. Daran können auch keine geistesgestörten Tweets von Elon Musk, Telefonanrufe von Macron oder aus den Fugen geratene Äußerungen von Roger Waters etwas ändern.

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