Polen, so nah und doch so fremd. Zwischen Polen und Deutschland, manchmal auch in der DDR.

Gastbeitrag aus dem Eastsplaining Substack (5) – „Was Roger Waters immer noch nicht begreifen kann“

Es ist meine Übersetzung der Beiträge aus Eastsplaining Substack, der Autor dieser Texte ist mit der Übersetzung und Veröffentlichung einverstanden. Quelle (englisch): https://eastsplaining.substack.com/p/what-roger-waters-still-cant-get

------------------- Anfang des Gastbeitrages -------------------

Was Roger Waters immer noch nicht begreifen kann

Von Zatybrze zu Saporischschja

Ähnlich wie Agent Mulder möchte ich glauben, dass Menschen wie Roger Waters in gutem Glauben handeln und nicht absichtlich Desinformationen verbreiten, nur für eine Handvoll Rubel. Deshalb habe ich diesen Blog gestartet – einen professionellen Lügner kann man nicht überzeugen, aber vielleicht gibt es Hoffnung für jemanden, der einfach kein Russisch spricht, wie Herr Waters, und daher direkte Quellen wie Putin-Reden nicht überprüfen kann?

Tomasz Kurianowicz, Max Kühlem. Roger Waters: „Bringt eure Regierungen dazu, den Krieg zu beenden“. Berliner Zeitung, 03.02.2023. Von rogerwaters.com abgerufen.

Lassen Sie mich mit dem berüchtigten Interview von Roger Waters vom 5. Februar beginnen. Sie sehen einen Ausschnitt, wo der große Musiker behauptet: „Putin hat immer betont, dass er kein Interesse daran hat, die Westukraine zu übernehmen – oder in Polen oder irgendein anderes Land jenseits der Grenze einzumarschieren. Was er sagt, ist: Er wolle die russischsprachige Bevölkerung schützen.“ Es ist offensichtlich, dass Herr Waters sich nie die Mühe gemacht hat, echte Putin-Reden zu lesen, nicht einmal in englischer Übersetzung – geschweige denn sie anzusehen oder anzuhören. Wahrscheinlich kein einziger von ihnen, und definitiv keine Stichprobe, die groß genug ist, um zu behaupten, daß „Putin immer etwas betont hat“. Diese Reden sind vage. Angeblich: Sie sind absichtlich vage. Nach einem Jahr der Invasion wissen wir immer noch nicht, was das Ziel war.

aus Youtube-Kanal von Julia Davies

Am 7. Februar erklärte Margarita Simonjan (Leiterin des Fernsehsenders Russia Today) ihrem Publikum, dass die Ziele der Invasion unklar seien – und das ist gut so. Die Leute fragen sie: „Was sind unsere Ziele? Nehmen wir Kiew oder nicht? Fahren wir weiter nach Berlin und vielleicht nach Lissabon?“. Ihre Antwort: „Es ist aus einem bestimmten Grund vage. Ziele ändern sich je nach Fähigkeiten“. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels ist Russland nicht in der Lage, die kleine Stadt Wuhledar einzunehmen, die seine Elitetruppen seit Monaten stürmen. Aber es ist ziemlich klar, dass sie Kiew einnehmen und weitermachen würden, wenn sie nur Fähigkeiten dazu hätten (deshalb sind die Länder, die „die Nächsten an der Reihe“ sein könnten, die leidenschaftlichsten Unterstützer der Ukraine). In den russischen Medien hört man ziemlich oft, dass das Ziel der „Speziellen Militärischen Operation“ darin besteht, den Atlantik / den Ärmelkanal / Washington DC zu erreichen. Unten sehen Sie einen Ausschnitt aus dem Interview des Leiters der Wagner-Söldnerkompanie und engen Freunde Putins, Jewgeni Prigoschin, mit Semen Pegov (alias „WarGonzo“), in dem ersterer behauptet, einen Plan zu haben, „wie man Ärmelkanal erreicht“. Wenn Sie versuchen möchten, Ihre Kyrillischkenntnisse aufzufrischen, ist das letzte Wort „La Manche“ in russischer Transliteration.

Der russische Top-TV-Moderator Wladimir Solowjow hat häufig Wutanfälle vor einer Live-Kamera, in denen er davon fantasiert, die USA, Großbritannien, Deutschland, Polen (aber manchmal auch Moldawien, Kasachstan oder einfach jedes andere Land, das sich geweigert hat, Russland zu unterstützen) innerhalb von 24 Stunden zu bombardieren. Es ist oft ziemlich theatralisch – er fantasiert davon, westliche Führer wie Scholz, Macron oder Pistorius zu foltern, er gibt vor, das sie um Gnade schreien (mit einem falschen deutschen Akzent, ja, wirklich!), und dann schreit er als er selbst („Magst du es nicht, eh? Schade, keine Gnade für dich, Swolotsch!").

Der weltberühmte „wütende Solowjow“, aus Youtube-Kanal von Julia Davies

Natürlich spreche ich noch nicht von Putin – nur von den Menschen aus seinem engsten Umfeld. Aber wenn Sie ein russischer Fernsehjournalist sind, können Sie einfach nichts gegen die Parteilinie sagen. Dies ist nicht Amerika, wo Sie Ihren Präsidenten zur Hauptsendezeit offen verspotten können. Sollten Simonjan, Solowjow, Pegov oder ihre Gäste etwas sagen, was der Kreml nicht gutheißt, würden sie einfach aus den Medien (und vielleicht sogar von dieser Welt) verschwinden. Nun zurück zu Putin. Am 23. Februar, kurz vor dem Krieg, hielt er eine öffentliche Rede, in der er über den „Lenins Fehler“ sprach, den er gleich korrigieren werde. Es war ein Fehler, den vom russischen Imperialismus eroberten Nationen das Recht auf Selbstbestimmung einzuräumen. Als das Russische Reich 1917 zerfiel, bildeten viele dieser Nationen tatsächlich ihre provisorischen Regierungen und erklärten ihre Unabhängigkeit. Dazu gehört die Ukraine – aber auch Finnland, Polen, Georgien, Armenien, Litauen, Estland usw. Es ist verständlich, dass wir – Menschen, die in diesen Ländern leben – dieser Rede sehr aufmerksam zugehört haben. Sehr, sehr sorgfältig. Ich glaube, ich könnte es mit der Aufmerksamkeit vergleichen, mit der ich in meiner Jugend Pink FloydsThe Wall“ gehört habe. Wenn Putin den „Lenins Fehler“ korrigieren will – und genau das hat er am Vorabend der Invasion erklärt – kann das nur bedeuten, dass wir die nächsten auf Putins Liste sind. Und Roger Waters liegt mit seiner Bemerkung „Putin hat immer betont“ zutiefst falsch.

aus Youtube-Kanal von Julia Davies

Natürlich können wir uns sicher fühlen, solange Putin nicht einmal Wuhledar einnehmen kann. Aber wie Simonjan es ausdrückte, die russischen imperialen Ziele werden von den russischen Fähigkeiten bestimmt. Wenn russische Fernsehmoderatoren davon phantasieren, London anzugreifen und westliche Politiker zu foltern, wenn Putin in seinen Reden häufig von seinem Willen spricht, das Zarenreich wieder aufzubauen - der einzige Weg für uns, uns sicher zu fühlen, besteht darin, dafür zu sorgen, dass seine Offensivfähigkeiten zunichte gemacht werden. Und sogar die Annexionen vom September widersprechen Herrn Waters Worten. Wenn Putins Ziel lediglich darin besteht, „die russischsprachige Bevölkerung des Donbass zu schützen“, warum dann Saporischschja annektieren? Es war eine sehr seltsame Annexion – zum ersten Mal in der Geschichte behauptete ein Land, ein Gebiet zu „annektieren“, über das es keine physische Kontrolle hatte. Bis heute kontrolliert Russland keine der vier „annektierten“ Regionen zu 100 %. Der Fall von Saporischschja ist der eigenartigste. Zum Zeitpunkt der „Annexion“ hatten die Russen zumindest die Kontrolle über die Stadt Cherson, aber sie verloren sie etwa einen Monat später. Sie erreichten jedoch nie die Stadt Saporischschja, in der etwa die Hälfte der Bevölkerung des Gebietes lebt. Stellen Sie sich nur vor, jemand würde ein Referendum im Bundesstaat New York abhalten, ohne die Kontrolle über New York City oder sogar Albany, nur über einige dünn besiedelte Waldgebiete im Hinterland. Und diese Abstimmung wäre für das ganze Bundesland gültig!

Verrückt? Genau so verrückt wie Mr. Waters Eingeständnis der falschen Referenden. Ich würde sogar sagen: „over the rainbow he is crazy[*]. Während das Wort „Saporischschja“ wie ein weiterer seltsamer slawischer Zungenbrecher klingt, ist es für jeden Slawen eigentlich ziemlich einfach. Sie müssen es nur im Zusammenhang mit unseren berühmten Präfixen und Suffixen verstehen. Das Präfix „sa-“ bedeutet „hinter, nach“. Suffixe „-zchia, -schia, -schtsche“ weisen darauf hin, dass es sich um einen Ortsnamen handelt (die genaue Wahl hängt vom letzten Konsonanten des Wortstamms ab). „Whateverischia“ könnte also „Bereich von Was auch immer“ bedeuten. Das berühmte römische Viertel Trastevere heißt auf Polnisch „Zatybrze“ („zahinter“ + „tybrtiber“ + „rzeGebiet“). Der Wortstamm von Saporischschja ist hier „porohy“, ukrainisch für „Stromschnellen“. Dieser Name bedeutet also einfach „das Gebiet hinter den Stromschnellen [am Fluss Dnipro]“. Auf Polnisch und Russisch haben wir sehr ähnliche Wörter für Stromschnellen, also ist es „Zaporosche“ in der russischen Transliteration. Wenn Sie sich jetzt eine Karte ansehen, macht dieser Name Sinn, wenn Sie von Kiew aus auf Saporischschja schauen - aber nicht, wenn Sie von Moskau aus schauen. Aus dem Osten gesehen liegt Saporischschja nicht „hinter“ Dnipro, sondern davor. Durch die Verwendung dieses Präfixes erkennen die Russen stillschweigend an, dass Saporischschja ukrainisch ist. Was war dann der Sinn dieser Schein-„Annexion“? Niemand weiß. Die Ziele der Invasion sind unklar, und – wie Simonjan im Fernsehen sagte – hat dies einen Grund. Noch im September hielt sich Putin für „fähig“, Cherson zu halten und Saporischschja zu erobern.

Wenn sie in Zukunft ihre „Fähigkeiten“ verbessern: Werden sie Kiew annektieren? Odessa? Charkiw? Nikolajew? Wieder einmal weiß es niemand. Vor allem in der Anfangsphase des Krieges veröffentlichten russische Medien häufig „Karten der Ukraine nach dem russischen Sieg“. Oben sehen Sie die letzte, die mir bekannt ist, von Ende Dezember 2022 (veröffentlicht von „Prawda“). Die ersten Karten enthielten überhaupt keine Ukraine - alles wurde annektiert, einschließlich Kiew. Die letzte enthält zumindest ein kleines Gebiet um Kiew - da es gezeichnet wurde, nachdem die verprügelten Russen Charkiw und Cherson verloren hatten, und teilweise zur Besinnung kamen. Später haben sie aufgehört, solche Karten zu veröffentlichen, und heute sprechen sie tatsächlich hauptsächlich vom Donbass - aber nicht, weil „Putin immer betont hat, er will nichts anderes annektieren“, aber weil je mehr russische Panzer in der Nähe von Wuhledar brennen, desto mehr surreal ist die Vision von russischen Panzern, die in Kiew (ganz zu schweigen von Warschau) einmarschieren. Aber leider bedeutet dies, dass sich selbst Roger Waters in seiner millionenschweren Villa nicht so sicher fühlen sollte. Bei ausreichenden Fähigkeiten können sie ihre Ziele jederzeit ändern und auch sie annektieren.

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Der Autor der Texte war in der Zeitung für populäre Kultur verantwortlich, deswegen sind seine Texte voll von Anspielungen an Lieder, Filme und Bücher. Ich kann mir vorstellen, dass viele deutschsprachige Leser nicht so einfach die Quellen der englischsprachigen Zitate erkennen können.  Wenn es keine deutsche Version von dem Werk gab, habe ich solche Zitate nicht ins Deutsche übersetzt - dann wären sie erst recht nicht erkennbar. Ich erkläre die Quellen aber:

[*] - "Uber dem Regenbogen ist er verrückt" -Es ist ein Zitat aus dem Roger Waters's Text des Liedes "The Trial" aus dem Konzeptalbum "The Wall"

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