Polen, so nah und doch so fremd. Zwischen Polen und Deutschland, manchmal auch in der DDR.

Ein Pole darf nicht – er kann

So ein umfangreiches Thema wie Polen anzugehen, erinnert mich an ein Geschicklichkeitspiel, das in Deutschland Mikado heißt. Es geht darum, aus einem Haufen von Stäben jede nacheinander herauszunehmen, ohne dabei die anderen zu berühren oder zu bewegen. In einem komplexen Thema sind alle Aspekte miteinander eng verknüpft, die einzelnen Teile muss man - wie beim Mikado - geschickt heraustrennen.

Die in Polen populäre Variante von Mikado heißt bierki (der Name kommt von brać - nehmen), die Stäbe sind aus Plastik und haben verschiedene Formen, die aus der Seefahrt entstammen - Speer, Paddel, Harpune, Bootshacken und Dreizack. Die einzelnen Formen werden verschieden gepunktet, die Spielidee ist aber genau die gleiche wie bei Mikado.

Die Idee, Polen über die Sprache zu erklären, war ganz gut. Ich habe langsam einen Plan, wie ich die Beiträge weiter schreiben soll. Ich werde die Mikado-Metapher verfolgen - die einzelnen Themen herauspicken, aber möglichst ein auf einmal. Heute der erste Stab: zwei Modalverben - können und dürfen. Ich hatte schon einen Beitrag über die deutschen Wörter können und dürfen für Polen, jetzt das Gleiche aber umgekehrt - über polnischem Verständnis von diesen zwei Verben für Deutsche.

Die Formen, die auf dem Titelbild meines Blogs und auf einigen anderen Bilder zu sehen sind, sind eben Bierki-Stäbe. Was vielleicht manche Leser gerade bemerkt haben: Ich habe mehrere Beiträge geschrieben bevor ich mit dem Blog offiziell gestartet habe. Deswegen heißt mein Blog schon vom Anfang an  "Polnisches Mikado" (ursprünglich wollte ich ihn "Polen, so nah und doch so fern..." nennen, was schließlich in den Untertitel gewandert ist) und hat auch Fotos mit bierki-Stäben, natürlich in Weiß und Rot - den polnischen Nationalfarben. Vielen Dank an agatanal, die mir die bierki geschickt hat, weil aber keine in Rot und Weiß zu finden waren, müsste ich die selber lackieren.

Na dann fange ich an: Für die Deutschen ist der Unterschied zwischen können und dürfen offensichtlich, ich brauche es gar nicht zu erklären. In Polen ist es aber anders. In Polen fragt keiner auf die Weise, die man wörtlich ins Deutsche als "Darf ich?" übersetzen würde. Diese Frage lautet immer "Kann ich?". Den Unterschied muss man einem Pole lange erklären und dieses Konzept ist für ihn schwer verständlich. Es gibt Sprichwörter wie "Wenn man will, kann (ein Deutsche würde hier darf sagen) man alles, nur langsam und vorsichtig". Für einen Polen, wenn er etwas kann, dann darf er es auch. Eventuell muss er dabei aufpassen, damit er dabei nicht erwischt wird.

Es gibt auch prominente Beispiele dieser Denkweise. Vielleicht dieser: Es gibt in Polen einen konservativen Politiker aus Krakau, der sogar mal ernsthaft als ein Kandidat für Ministerpräsidentenposten betrachtet wurde. Er ist etwas exzentrisch, trägt immer einen Hut, sein zweiter Vorname ist Maria (natürlich nach der Gottes Mutter). Seine Frau ist eine ebenso exzentrische Russland-Deutsche. Jan Maria Rokita heißt er (lustigerweise heißt in vielen polnischen Märchen ein der Teufeln eben Rokita). Quintessenz des polnischen Konservatismus. Vor Paar Jahren, als er schon nicht mehr in der Politik präsent war, flog er mit einem Lufthansa-Flieger aus München nach Krakau in Economy Class. Oder besser gesagt: Er wollte fliegen. Vor dem Start wollte er sein Mantel in einem Schrank im Business Class hängen lassen und sein Hut dort ablegen. Die Flugbegleiterin weigerte sich es ihm zu erlauben und er konnte es überhaupt nicht begreifen! Für ihn war es total unverständlich dass es ein Ding gibt, das er machen kann, aber nicht darf. Er stellte sich stur ("Wissen Sie wer ich bin?" - er war aber niemand mehr), und rief in Richtung der im Flugzeug sitzenden Polen: "Hilfe! Deutsche schlagen mich! Sie sind doch Polen, bitte helfen Sie mir!". Die gerufene Polizei holte ihn aus dem Flieger in Handschellen heraus, und er sollte ein sattes Bußgeld bezahlen. Er tat es nicht und bis heute steht in Deutschland ein Haftbefehl gegen ihn. Immer noch glaubt er, er würde wegen seiner Nationalität misshandelt. Es ist umso seltsamer, dass er Jura studierte, er müsste eigentlich etwas von Recht, Gesetz und Vorschrift verstehen!

(Wenn jemand etwas mehr darüber wissen möchte, HIER ein Link zum Artikel in deutscher Wikipedia. Der misst aber den wirklichen Streitpunkt.)

Das Positive daran: Immer mehr Polen verstehen den können/dürfen Unterschied. Der Politiker wurde in Polen allgemein ausgelacht und seine Schreie im Flugzeug (die jemand aufnahm) waren eine Weile lang ein beliebtes Handy-Klingelton. Keiner der Mitfliegenden hatte Verständnis für ihn.

Diese Geschichte war ziemlich lustig (etwas weniger wenn man bedenkt, dass so ein Mensch Ministerpräsident werden könnte), ich will aber keine Konkurrenz der Boulevard-Presse machen. Bei mir wollen wir den Sachen tiefer auf den Grund gehen. Also die Frage: Wie kommt das?

Hier kommen wir zu einem Punkt, in dem unser Stab viele andere Stäbe berührt. Der nächste Stab, den ich herauspicke, ist mit diesem so eng verbunden, wie die zwei Teile eines Dreschflegels: Der können/dürfen Unverständnis kann zu Katastrophe und Tod führen. Unbedingt die nächste Folge lesen!

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Betreff: , , ,

Kategorie:Polnisches Mikado

Kommentare: (1)

Polnische Sprache – schwere Sprache

Deutsche Sprache - schwere Sprache, sagt man oft. Leute, das glaubt ihr!

Irgendwann, bei der Suche im Internet bin ich auf eine Diskussion in einem englischsprachigen Forum der Dolmetscher  gestoßen, zum Thema "Welche ist die schwierigste Sprache der Welt". Es ging nicht um die Schrift - so waren Chinesisch und Japanisch keine Renner, sondern um Vielfalt der grammatischen Strukturen, Rechtschreibung und ähnliches. Die Diskutanten kamen schnell zum Schluss, dass es - für mich überraschend - die polnische Sprache ist. Dann kam einer mit der Aussage, dass die serbische Sprache noch etwas dazu hat, aber nicht viel mehr.

Ich habe nachgedacht, nachgeforscht, und etwas ist wirklich dran. Hier einige Merkwürdigkeiten dazu. Ich möchte daran erinnern, dass ich ein Ingenieur und kein Sprachwissenschaftler bin, bitte den Text nicht als Quelle für die Diplomarbeit in Slawistik verwenden 😉

  • Schriftzeichen - Die Deutschen haben vier "nicht standardmäßigen" Buchstaben, die Polen haben neun davon (ą, ć, ę, ł, ń, ó, ś, ż und ź). Und keine Möglichkeit die zu ersetzten, falls nicht vorhanden (ich meine die deutsche "ä" -> "ae" Translation). Und wenn man diese Buchstaben nicht auf seiner Tastatur hat, können lustige Missverständnisse entstehen. Zum Beispiel statt "tue mir ein Gefallen" (zrób mi łaskę) steht plötzlich da "blase mir einen" (zrob mi laske).
  • Substantiv - Fälle: Die vier deutschen Fälle findet man in Polnisch wieder. Dazu noch gibt es drei zusätzlichen: einen der in Deutsch mit Hilfe der Präposition "mit" ausgedrückt wird, einen für das deutsche "über", und einen der verwendet wird, wenn man jemanden rufen will. Das macht insgesamt sieben.
  • Artikel: In polnischem gibt es keine Artikeln. Genus, Anzahl und Fall werden durch die Endung bestimmt. Es ist eher eine Vereinfachung - in Deutsch muss man Genus auswendig lernen, in Polnisch sieht man es sofort (bis auf eine Ausnahmeklasse - Namen mancher männlicher Berufe, die eine weibliche Endung haben).
  • Substantiv - Zahl: Außer Singular und Plural gab es in polnischer Sprache auch Dual. Es ist zwar eine etwas veraltete Form, die gibt es aber für manche Wörter immer noch und die wird manchmal benutzt.
  • Substantiv - Genus: In Singular haben wir die üblichen drei, im Plural gibt es aber nicht einen, sondern zwei (männlich und nichtmännlich-sachlich, es sagt auch etwas von der Gleichstellung der Frauen, mindestens wie es früher war).
  • Verb: Die polnischen Sprachwissenschaftler behaupten, in Polnisch gibt es nur drei grammatischen Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). Das ist schlicht und ergreifend eine Lüge. Diese grammatischen Zeiten haben noch so genannte Aspekte, und gleich sind wir bei üblicher Anzahl von etwa 5.
  • Verb - Konjugation: es gibt 11 Konjugationsmuster für polnische Verben. Plus einige Untermuster. Fragt mich nicht nach Einzelheiten.
  • Verb - Genus: Viele Verben haben in der Vergangenheit verschiedene Formen in Verbindung mit Substantiven verschiedenen Genus. So ist es z.B. nicht möglich über Ereignissen in der Vergangenheit zu erzählen, ohne das Geschlecht der handelnden Person preiszugeben.
  • Verb - Ausnahmen: Es gibt einige Verben, die unregelmäßig sind. Klingt harmlos, es ist aber keine Unregelmäßigkeit wie in Deutsch. In Deutsch muss man nur eine überschaubare Tabelle mit drei Spalten und etwas über hundert Zeilen auswendig lernen, wobei wirklich unregelmäßig nur einige davon sind. In Polnisch gibt es nur wenige solche Verben (etwa 14), jeder aber in unzähligen Formen ohne erkennbare Regel. Kaum einer macht keine Fehler beim Gebrauch dieser Verben.
  • In deutschem gibt es eine vorgeschriebene Reihenfolge der Wörter in einem Satz. Verb an zweiter, erster oder letzter Stelle, Substantiv beim Verb, Reihenfolge der Attribute ist vorgeschrieben, usw., es gibt also feste Regel um korrekte und als gut empfundene Sätze zu bilden. In Polnisch gibt es so etwas nicht. Kaum feste Regeln, nur Intuition. Man kann die Reihenfolge stark variieren um verschiedene Effekte zu erzielen. Manche Kombinationen werden als ansprechend, edel oder poetisch empfunden, andere als linkisch, läppisch oder hämisch. Die Grenzen dazwischen sind flüssig und nicht leicht zu erlernen.
  • Was ich an polnischer Sprache schön finde, ist die Möglichkeit die Verniedlichungen und Vergröberungen in vielen Abstufungen zu bilden. In Deutsch gibt es praktisch nur -chen und -lein und das war's eigentlich. Aber diese Vielfalt der polnischen Formen ist schwer für einen Ausländer aus dem nicht slawischen Sprachraum zu beherrschen.
  • Verschiedene Vorsilben können einem Verb vorgeschaltet werden. Das gibt es in Deutsch auch, in Polnisch sind die Möglichkeiten aber ungleich vielfältiger. Ein durchschnittlicher Pole kann mit Hilfe von einem einzigen Verb pierdolić (Deutsch ficken) mit verschiedenen Vorsilben und in verschiedenen abgeleiteten Formen, ein breites Spektrum von Vorgängen, Zuständen, Tatsachen und Gefühle ausdrücken oder beschreiben.
  • Dazu kommt noch die sehr komplizierte Rechtschreibung. Habt ihr Probleme mit deutscher Rechtschreibung? Ein Grund sich zu schämen, bei so einfachen Regeln, ich mache es mit Links und verbundenen Augen. In Polnisch haben wir oft aus zwei Möglichkeiten zu wählen - "rz" und "ż", "ch" und "h", "u" und "ó" klingen jeweils identisch, wie man was schreibt muss man entweder auswendig lernen, oder die Etymologie des jeweiligen Wortes kennen - also sehr viel lesen. Wer über einen visuellen Gedächtnis verfügt ist klar im Vorteil.
  • Die Aussprache ist schwierig, die deutschen Zungenbrecher sind relativ einfach, wenn man die mit den polnischen vergleicht. W Szczebrzeszynie chrząszcz brzmi w trzcinie. (HIER das Gedicht, aus dem dieser Zungenbrecher stammt, zum Hören)
  • Sehr viele polnische Wörter wurden aus anderen Sprachen übernommen - aus Deutsch, Französisch, Italienisch, Latein, Russisch... Ein belesener Pole hat ein Wortschatz in diesen Sprachen schon bevor er diese zu lernen beginnt. Er weiß es aber meistens nicht.
  • Das alles heißt natürlich noch lange nicht, das Polnisch dem Deutsch immer überlegen ist. Was ich schön an Deutsch finde, aber in Polnisch nicht existiert, ist zum Beispiel die indirekte Rede. Oder solche Wörter wie doch oder jain.

Sicher kann man noch viele Einzelheiten aufzählen. Aber schon jetzt sieht man: Die polnische Sprache ist verdammt schwierig. Wenn jemand diese Sprache wirklich gut beherrscht hat, soll keine großen Probleme mit anderen Sprachen bekommen.

Es gab schon Polen, die Weltklassenliteratur in anderen Sprachen verfassten, Paradebeispiel ist der Joseph Conrad. Sein wahrer Name war Józef Korzeniowski, er lernte Englisch erst mit 20. Bis zu seiner Lebensende sprach er Englisch mit einem starken polnischen Akzent, trotzdem wird er als einer der größten englischsprachigen Prosaikern angesehen. Als einer seinen polnischen Bekannten ihn für das Schreiben auf Polnisch gewinnen wollte, sagte Conrad, seine Fähigkeiten seien zu schwach um mit den besten polnischen Schriftstellern aufzunehmen, seien aber gut genug für das Schreiben auf Englisch.

Dagegen sind mir keine Beispiele der fremdsprachigen Schriftsteller bekannt, die erfolgreich etwas auf Polnisch schufen.

Eine andere lustige Geschichte: Mein Schulfreund aus der Oberschule (Klasse 9 bis Abitur) lernte Deutsch erst ab 14. Jetzt arbeitet er im Institut für Deutsche Sprache in Heidelberg und sagt euch - den Nativen - wie ihr Deutsch zu sprechen habt. 😆

Ich höre schon manche Leser rufen: "Moment, ich kenne aber Polen, die grottenschlecht Deutsch sprechen!" Na ja... Zuerst muss man es lernen wollen und die notwendige Arbeit einstecken. Und zweitens: Woher die Schlussfolgerung, dass wenn jemand ein Pole ist, auch gut polnisch spricht? Klar, in jedem Land gibt es einfachen, nicht gut ausgebildeten Menschen, deren Sprachkompetenz in ihrer Muttersprache nicht besonders gut ausgeprägt ist. Nehmen wir als Beispiel Lech Wałęsa, der zwar etwas Großes getan hat (oder, nach den anderen, auch nicht, darüber muss ich auch mal etwas schreiben), aber wenn ich ihn sprechen höre, will ich mich von lauter Schamgefühle sofort unter einem Tisch verkriechen. Aber unter den Akademikern, den echten, nicht honoris causa wie Wałęsa, sollte es einigermaßen gehen.

Leider geht es in Polen nicht immer. Der aktuelle Präsident Polens, Bronisław Komorowski, hat mal bei einem Eintrag in ein Gedenkbuch einen sooo schrecklichen Rechtschreibfehler gemacht... Die rechten Nationalisten wollen es ihm seit Paar Jahren nicht verzeihen, obwohl die Rechtschreibprobleme bei Polen gerade mit rechtsnationalistischem Gedankengut ziemlich stark korrelieren. Der Leader der rechtspopulistischer (na ja, über diese Bezeichnung lässt sich auch Streiten, ich schreibe mal etwas darüber) Partei "Recht und Gerechtigkeit", ehemaliger Ministerpräsident Jarosław Kaczyński, obwohl er ein Doktortitel in Jura hat, spricht sehr undeutlich, unpräzise, und nicht immer grammatisch korrekt (vom meistens blödsinnigen Inhalt abgesehen). Er konnte sich auch bis jetzt keine Fremdsprache aneignen. Und die beiden  besuchten die Schulen und studierten noch in kommunistischen Zeiten, als Ausbildungsniveau viel höher war, als jetzt.

Und der Durchschnitt ist, über alle Klassen und Schichten, katastrophal. Viele Beiträge im Internet zu lesen tut wortwörtlich weh. Die Sprache vieler Politiker macht einen Eindruck, als ob sie nie in seinem Leben ein Buch gelesen hätten. Wortschatz von vielen, angeblich ausgebildeten Menschen beschränkt sich auf einige Schimpfwörter in vielen Varianten (siehe oben über pierdolić) und ein berühmtes polnisches Schimpfwort kurwa in der Funktion eines Kommas oder eines Hilfsverbs.

Schon genug von Polnisch Lernen abgeschreckt? Jetzt mal ernst. Polnisch sprechen "nur" etwa 50 Millionen Menschen in der Welt, in der EU sind es immerhin 9% die polnisch als Muttersprache deklarieren. Polen selber ist sehr einheitlich, fast alle sprechen Standardpolnisch, die verschiedenen Dialekte haben kaum noch Bedeutung (ich muss mal mehr darüber schreiben). Die Sprache ist wirklich schwierig zu erlernen, ich finde aber sie schön und vielfältig. Und es gibt eins, wofür es sich lohnt sie zu lernen - es ist Stanisław Lem im Original zu lesen. Dazu schreibe ich sicher mehr, aber ein anderes Mal.

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Betreff:

Kategorie:Polnisches Mikado

Kommentare: (9)